Silenus: Thriller (German Edition)
ein ergrautes Nest aus Haaren herauslugte. Er saß krumm auf seinem Stuhl, sodass sich sein Bauch nach oben wölbte, und seine tabakfleckigen Finger ruhten obenauf. Aber das Befremdlichste an ihm waren seine Augen: George hatte stets den Eindruck gehabt, dass sein Vater verstörend leidenschaftslose Augen hätte, doch manchmal erschienen sie so blau und welk, dass sie unwirklich aussahen. George hatte oft gedacht, dass sein Vater viele Stunden damit verbracht haben musste, Dinge anzustarren, die niemand sehen sollte.
Er war nicht das, was George wollte oder brauchen konnte. Es war unmöglich, ihn zu kennen, und noch schwerer, ihn zu lieben. Und solange die Weise geschützt werden musste, würde George niemals einen Platz in seinem Leben haben.
»Wann wird das zu Ende sein?«, fragte George.
»Zu Ende?«, wiederholte Silenus. »Du glaubst, es gäbe ein Ende?«
»Ja«, sagte George. »Bitte sag mir, dass es eines gibt. Bitte sag mir, dass auf uns noch etwas anderes wartet.«
Stanley blickte aus traurigen Augen auf und schrieb: ES GIBT KEIN ENDE.
»Er hat recht«, nickte Silenus. »Am Ende unseres Strebens wartet kein Gral auf uns, George. Es gibt kein Ende. Nur Überleben. Tag um Tag, Jahr um Jahr. Wir wehren sie mit jeder Minute unseres Lebens ab. Ich werde dich nicht belügen, George. Von dieser Bürde gibt es keine Erleichterung. Es gibt keinen Punkt, an dem sie von uns genommen wird. Wir müssen sie ganz einfach tragen oder sterben.«
George schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht wahr. Das ist eine Lüge.«
»Nein, George«, sagte Silenus. »Das ist die Wahrheit. Die größte und die einzige Wahrheit. Die Dinge enden nicht. Sie ziehen ohne uns weiter. Das ist eine Wahrheit von solcher Größe, dass die meisten Leute Lügen ersinnen und diese dann leben müssen, um sich vor ihr zu schützen.«
»Du glaubst nicht daran, dass man es schaffen kann«, warf George ihm vor. »Du erwartest, dass es zu Ende geht, Harry.«
»Meinst du?«
»Ja. Ich sehe es dir an.«
»Und welches Ende erwarte ich, George?«
»Als du mir diese Ödnis gezeigt hast, den Ort, den die Wölfe verschlungen haben … du hast gesagt, die ganze Welt würde so sein, wenn die Wölfe gewinnen. Du hast nicht gesagt ›falls‹. Du hast gesagt ›wenn‹. So, als wärest du überzeugt, dass es so kommen wird.«
Silenus schien auf seinem Stuhl ein wenig in sich zusammenzusacken. Er starrte ins Feuer, und als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme wie ein Krächzen. »Ja. So ist es.«
»Also denkst du, wir werden verlieren?«, fragte George.
Silenus seufzte. »Ich glaube, das ist unausweichlich, ja. Der Zweck unserer Mission ist das Überleben, George. Und ein Punkt beim Überleben ist, dass es nicht ewig anhält. Nichts hält ewig. Es mag nicht heute passieren oder morgen oder dieses Jahr oder auch nur innerhalb meiner Lebenszeit. Aber ich weiß, wir können nicht ewig weiterlaufen. Eines Tages werden wir stolpern oder einfach aufgeben.«
»Aber die früheren Truppen haben die Weise schon so lange Zeit gehütet«, wandte George ein. »Wir sind doch nur die neueste Version, oder?«
»Oh, ja«, sagte Silenus. »Ich glaube, im Osten hat es beispielsweise eine japanische Figurentheatertruppe gegeben, die über ein Jahrhundert sehr erfolgreich gearbeitet hat. Aber überleg dir, womit wir es zu tun haben, Junge – die Wölfe ermüden nie, sie schlafen nie, sie sterben nie. Äonen sind für sie nicht mehr als ein Lidschlag. Sie waren vor der Zeit hier, und sie werden auch nach ihr noch da sein. Wir können ihnen nicht ewig davonlaufen. Wir zögern das Unausweichliche lediglich hinaus.«
»Warum um alles in der Welt machst du das dann überhaupt?«, fragte George.
»Es scheint ziemlich dumm zu sein, nicht wahr?«, entgegnete Silenus.
»Na ja, vielleicht nicht dumm … Nutzlos trifft es vielleicht besser.«
Silenus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wie immer du es nennen willst. Es bleibt doch das Gleiche. Wir hängen an einem Bindfaden über dem Schlund von etwas Gewaltigem, etwas Unermesslichem und Schrecklichem. Selbst wenn wir die Stunden und Tage bis zum Gehtnichtmehr hinausziehen, wie können sie in Anbetracht dessen, was kommen wird, irgendeine Bedeutung haben?«
»Ja.«
Silenus legte den Kopf schief. »Hm. Lass mich dir eine Geschichte erzählen, Junge«, sagte er. »Das hat sich vor langer, langer Zeit zugetragen, ausgerechnet in England, noch bevor ich zu dieser Truppe gestoßen bin oder auch nur wusste, dass es
Weitere Kostenlose Bücher