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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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sie gibt. Ich war in Schwierigkeiten, hatte ein paar Dummheiten begangen und bin ins Loch geworfen worden. Die Strafe, mit der ich aller Wahrscheinlichkeit nach zu rechnen hatte, war die Deportation. Nun ja, ich dachte, ich sei arm dran, aber meinen Zellengenossen hat es schlimmer erwischt. Er war ein magerer, kleiner Ire namens Michael Feenan, und auf ihn wartete der Galgen, ein Tanz am Hanfseil, bis er die Mühsal allen irdischen Seins abgeschüttelt hätte und so weiter. Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten im Kittchen hat er nie behauptet, er wäre unschuldig. Er stand zu dem, was er getan hatte – er hatte einen Burschen in einem Göpelhaus erdolcht – und wusste, dass es keinen Sinn haben würde, sich gegen sein Urteil zu wehren, weil wir alle englische Dreckskerle seien und ihn so oder so hängen würden. Womit er wohl durchaus richtig lag.
    Als man mich in seine Zelle geworfen hatte, blieb Feenan noch eine Woche bis zur Hinrichtung, aber er war schon in einem jämmerlichen Zustand – bei seiner Verhaftung hatte er schlimme Prügel bezogen, und sein rechtes Bein war an mehreren Stellen gebrochen. Sein Schienbein und der Knöchel waren stark geschwollen und so violett wie eine verdammte Pflaume, das kann ich dir sagen. Er konnte kaum sitzen, so stark waren die Schmerzen. Die Wachen würden ihn also, wenn seine Zeit gekommen war, wie einen Krüppel auf das Schafott schleppen müssen. Aber Feenan hatte andere Pläne.
    Er hatte sich von seiner Frau Seile und ein paar Holzstücke hereinschmuggeln lassen und die ganze Woche über versucht, eine Schiene für sein Bein zu bauen. Etwas Quälenderes habe ich nie gesehen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn irgendein Kerl, der keine Ahnung von Anatomie hat, versucht, Schienen um sein eigenes geschwollenes, gebrochenes Bein zu schnüren? Und dann hat er versucht, darauf zu laufen. Hat das Bein getestet. Und fast jedes Mal ist er gestürzt. Aber Feenan hat nie geheult, gejammert oder geflucht. Er hat sich einfach wieder hochgestemmt, die Schiene neu geschnürt und es wieder versucht.
    Dann, am Tag vor der Hinrichtung, habe ich ihn gefragt, was er da eigentlich tue. Ich meine, er war so oder so tot, wozu also all diese Mühe? Was machte es schon, wie ein Mann auf das Schafott trat? Und er sagte: ›Der Gang zum Schafott wird mein letzter Gang sein, Willie‹ – das war der Name, den ich damals genannt hatte –, ›und danach bleibt nur noch der Sturz durch die Falltür. Und wenn dieser Gang alles ist, was noch bleibt, dann ist er wichtig.‹
    Als dann sein Tag gekommen war, brachten sie ihn hinaus und ließen ihn aus eigener Kraft gehen. Ich konnte ihn aus dem Fenster in meiner Zelle sehen. Er ist nur dreimal gestolpert. Und jedes Mal hat er sich hochgestemmt und seine Kleider zurechtgezupft, bis er so würdevoll aussah, wie es eben möglich war, und ist weitergegangen. Obwohl sein Bein ihm Schmerzen bereitet hat und sein Körper selbst eine Last war, ist er weitergegangen, bis sein Kopf in der Schlinge steckte. Er wurde übrigens an diesem Balken gehängt«, fügte Silenus hinzu und tippte auf das verzerrt aussehende, geschwärzte Holzstück. »Vermutlich der beste Exitus, den das Ding je zu sehen bekommen hat.«
    Er zündete sich eine Zigarre an. »Wie etwas endet, ist wichtig, George«, sagte er. »Es ist wichtiger als das Ende selbst oder wohin uns der Weg führt. Ich habe nie vergessen, was Feenan damals gesagt hat, und ich habe es mir zu Herzen genommen, als mir klar wurde, dass wir diesen Kampf nicht ewig durchhalten können. Dieses Büro selbst ist eine stete Ermahnung.«
    »Wirklich?«, fragte George. »Inwiefern?«
    »Komm her«, sagte er, stand auf und trat an das Erkerfenster. »Diese Sterne hast du doch schon einmal gesehen, nicht wahr?«
    George stand neben seinem Vater und schaute aus dem Erkerfenster. Dort, unter ihnen, lag die kalte, felsige Ödnis, die er in dem Schatten in Hayburn gesehen hatte, die endlosen grauen Klippen und die kalten weißen Sterne und die gähnenden schwarzen Abgründe. Sie selbst schienen nur ein paar Fuß über all dem in der Luft zu hängen, als würde das Fenster in all dieser Schwärze schweben, und ihm fiel auf, dass das Fenster keinen Griff und keinen Riegel hatte, so, als sollte es niemals geöffnet werden.
    »Ich habe mein Büro mitten in die Art von Tod gesetzt, mit dem sie uns bedrohen«, erklärte Silenus. »Sie müssen es trotzdem erst mal finden, die dummen Dinger. Ich habe es so eingerichtet, dass es

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