Silenus: Thriller (German Edition)
Handschrift, die so unleserlich war, dass George vermutete, dass der Verfasser kein allzu geübter Schreiber sein konnte. Er betrachtete die Karten und stellte fest, dass sie alle ländliche Gegenden abbildeten. Etliche Gebiete waren mit einem Kringel markiert worden. Er überlegte noch, was das zu bedeuten haben mochte, als ihm Silenus’ Turm und die Karte, die er dort gesehen hatte, in den Sinn kamen, und er stellte fest, dass die Hervorhebungen mit den Stellen übereinstimmten, an denen sie die Erste Weise aufgespürt hatten.
George hatte das Verlangen, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Der Bewohner dieses bizarren Lagers war offenbar vollständig auf die Truppe fixiert und wusste zudem von ihrer Mission und der Ersten Weise. Für Georges Geschmack waren das erheblich zu viele Zufälle, und das Theater war nicht mehr der Ort, den er einmal gekannt hatte: Es war dunkel und verfallen und roch nach Blut und Asche, und der Anblick dieser fünf Figuren, die in der Kleidung seiner Freunde und Angehörigen am Rande der Bühne standen, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Er machte kehrt, um von diesem Ort zu verschwinden, blieb aber gleich wieder stehen. Vor ihm in dem Orchestergraben stand sein altes Piano, und bei diesem Anblick tat sein Herz einen Sprung. An diesem Instrument hatte er so viele glückliche Stunden verbracht und im Lob Ebenbürtiger geschwelgt. Während er zu dem Instrument ging, sah er, dass jemand an den Tasten saß.
Wie zuvor war es kein Mensch, sondern eine weitere Puppe, aber diese war klein und zusammengesunken und hatte keine Hände. Sie trug ein schäbiges Tweedjackett samt Weste und eine noch schäbigere Reitkappe. Und trotzdem erkannte George die Haltung, in der die Puppe vor dem Piano saß, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als wollte sie die Musik besser hören oder die Melodie genießen, die sie spielte …
Es war unverkennbar, dass diese Figur George selbst darstellen sollte. Er wich zurück, entsetzt von dem Anblick seines zusammengesunkenen, kleinen Selbst, das da vor dem Piano kauerte.
Dann schepperte etwas im Bereich des Eingangs. George erschrak, hockte sich auf den Boden und beobachtete die geborstenen Fensterscheiben in den Eingangstüren. Irgendwo dahinter sagte eine tiefe Stimme: »Dieser Tage weiß niemand, wo er ist …«
Eine scharfe, stählerne Stille breitete sich in dem Theater aus, und die Schatten im Hintergrund erschauerten wie zur Feier des Geschehens.
»Oh, nein«, flüsterte George.
Er rannte auf die Bühne und weiter nach hinten, doch als er das tat, stieß er versehentlich gegen die Attrappe, die Silenus darstellen sollte, und Globus und Zylinder stürzten herab. George kam rutschend zum Stehen und ließ sich halb zurückfallen. Zu seiner Überraschung gelang es ihm, beide Gegenstände aufzufangen, ehe sie auf den Boden prallen konnten. Unbeholfen balancierte er sie auf den Armen in der Absicht, sie zurückzulegen, doch die Stille wurde lauter, und er glaubte, er sähe etwas auf die Tür zukommen. Er ließ von der Puppe ab und floh hinter die Bühne, und Silenus blieb kopflos zurück.
Er schlängelte sich den Gang hinunter, bis er die Wand mit dem Fetzen des grünen Vorhangs erreicht hatte. Dort stierte er in die Schatten auf der anderen Seite, dachte nach und tastete sich hinein. Doch wo gerade noch eine Öffnung gewesen war, die in die graue Ödnis führte, war nun nur noch eine Ziegelmauer.
Der Schatten war fort. Die Ecke musste bei Georges Auftauchen verstärkt worden sein, was, wie er annahm, nicht unlogisch war, denn schließlich musste es auf diesen dünnen, substanzlosen Ort heilend wirken, wurde die Weise in ihn hineingetragen … aber nun blieb ihm kein Ausweg mehr.
Er hörte eine Tür im Theater aufschwingen, dann das Echo von Schritten, doch es klang, als hätte er Watte in den Ohren, und da war ein leises Klackern, das auf Klauen hindeutete.
»Er wird immer sonderbarer, wenn ihr uns fragt«, sagte die tiefe Stimme. »Und wir wissen, ihr habt uns nicht gefragt, trotzdem.«
»Hockt da mit seinen Notizen, starrt sie auf der Bühne an, schaut auf seine Karten …«, ergänzte eine zweite Stimme. Diese war deutlich höher und klang näselnd. »Er verbringt seine Zeit lieber hier als anderswo, und er behält die ganze Zeit seine Haut an. Und von seinem Mantel ist dabei noch gar nicht die Rede.«
»Hat es das bewirkt? Als er …?«
»Nein«, antwortete die näselnde Stimme. »Das ist nicht das, was wir gehört
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