Silenus: Thriller (German Edition)
herablief.
Eine Wolke jedoch blieb direkt unter ihnen, gerade ein paar Meter entfernt, ein kleiner Teppich aus wogendem Dampf, der sich direkt unter Georges Füßen zu einem Punkt konzentrierte. Der Punkt selbst war dunkel, wabernd, schlug Salti und beschrieb Kringel, die George an einen Schopf sehr dichten Haares erinnerten. Und der Punkt schien sich zu drehen, und in der Drehung sah George weiche, nebelhafte Formen, die er zu kennen glaubte …
Langsam verlor er wieder das Bewusstsein, aber vorher nahm er ein Gesicht wahr, gezeichnet in harten Grautönen und der wirbelnden Sanftheit der Regenwolke unter ihnen, möglicherweise das Gesicht eines jungen Mädchens, und er meinte, es hätte ihm vielleicht zugelächelt.
Irgendwo flackerte es. Nicht ein Licht, sondern alles; die Welt selbst erbebte, stürzte davon, und alles war klein und dünn und substanzlos, eine winzige Kritzelei in der Ecke eines gewaltigen, schwarzen Gemäldes, dessen Ränder niemand sehen konnte.
Dann kam alles wieder. Luft fand den Weg in Georges Lunge, und er keuchte. Er schlug die Augen auf und fand sich auf einem Bett in einem schäbigen Zimmer wieder. Irgendwo hörte er Trompeten spielen und Hunderte von Menschen lachen. Er fühlte sich unendlich müde, doch er nahm all seine Kraft zusammen, um sich in dem Zimmer umzusehen. Auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand war eine Kerze, und George sah seinen Vater gleich neben ihr sitzen. Sein Hemd und sein Mantel waren immer noch tropfnass.
Dann flimmerte wieder alles, und George erkannte, dass er etwas hörte: Ganz in der Nähe sang jemand die Erste Weise.
Als das Flimmern aufhörte, sah George, dass sein Vater nicht mehr neben der Kerze saß. Er versuchte, seinen Namen zu rufen, aber dazu fehlte ihm die Stimme. War Harry irgendwo in der Dunkelheit und beschwor die Weise? Und wenn, warum? Außerdem klang sie viel weicher, als George sie je empfunden hatte.
Doch dann geschah etwas: Die Weise bog sich kaum merklich, ließ die Melodie im Stich, die er so viele Male gehört hatte, und wurde stattdessen zu etwas Neuem. Und als sie das tat, fühlte George, wie etwas in ihn drang, ihn ausfüllte, bis er glaubte, platzen zu müssen, und er warf den Kopf zurück und schrie …
Die Dinge veränderten sich.
Der Raum versank in Finsternis, aber in seiner Mitte war ein winziges, weißes Etwas. Es wurde größer und größer, und während es sich ausdehnte, erkannte George, was er vor sich sah: Es war das Haus seiner Großmutter in Rinton. Es schwoll an, bis es sein ganzes Blickfeld ausfüllte. Er sah, dass Nacht war und ein einzelnes Licht in seinem Zimmer im Obergeschoss brannte. Aber die Eiche vor dem Haus passte nicht … sie schien viel kleiner zu sein, als sie es in seiner Erinnerung war. Waren ihre Äste nicht so riesig, so lang gewesen, dass sie über sein Fenster gestreift waren? Doch, so war es; er hatte einen dieser Äste benutzt, um sich aus ihrem Haus zu schleichen, er war aus dem Fenster und den Baum hinab geklettert, und dann war er zum Bahnhof gelaufen, um die Eisenbahn nach Freightly zu erwischen. Doch hier endeten die Äste weit vor seinem Fenster. Der Baum war beinahe noch eine Jungpflanze.
Dann sah er, dass jemand unter dem Baum stand, verborgen im Schatten. Die Person hob den Kopf und fing an zu singen, und von ihren Lippen kam die Erste Weise, doch sie klang sehr, sehr schwach.
Ein Schatten bewegte sich hinter dem Fenster im Obergeschoss, und George erkannte, dass dort jemand in seinem Zimmer war. Der Schatten trat ans Fenster und öffnete es, und nun sah er, dass es ein junges Mädchen war, doch ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Die Weise verstummte, und die Person unter dem Baum schaute zu der jungen Frau hinauf. Sie winkte und machte kehrt, um die Treppe hinunterzulaufen, und die Person unter dem Baum strich sich mit den Fingern durch das Haar, als wäre sie nervös. Es war eine jungenhafte Geste, eine, die George selbst viele Male vollführt hatte, und er fragte sich, wer die Person sein mochte. Doch ehe er noch mehr erkennen konnte, versank alles in Dunkelheit.
Als er wieder erwachte, sah er, dass Kerze und Tisch bewegt worden waren und nun direkt neben seinem Bett standen. Sein Vater saß gleich daneben auf einem Stuhl und sah erschöpft aus. Sein Mantel und sein Hemd waren immer noch feucht, aber Haar und Schnurrbart waren nun trocken.
»Nicht aufsetzen«, sagte er, als er sah, dass George wach war.
»Was ist passiert?«, fragte George. »Meine Augen,
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