Silenus: Thriller (German Edition)
Gefolge schienen nie zu ermüden. Doch als sie einen alten, knarrenden Korridor hinuntergingen, erhaschte George einen Hauch von etwas äußerst Verlockendem. Der Geruch erinnerte ihn an gebratenes Fleisch mit Honigmarinade und Rosmarin. Er ließ sich zurückfallen und folgte dem Duft zu einer offenen Tür auf einer Seite des Ganges und drückte sie zögernd weiter auf.
Drinnen stand ein langer, schmaler Tisch mit Hunderten von Gedecken. Das Festmahl schien bereits vor Stunden stattgefunden zu haben, ohne dass bisher jemand aufgeräumt hatte. Schmutzige Schüsseln und Krüge und viele, viele Teller bedeckten die Tischplatte. Aber was George vor allem ins Auge sprang, waren die Knochen. Sie lagen haufenweise auf den Tellern, hier und da als Teil eines ganzen Skeletts, anderswo in Form einzelner Schenkel oder Rippen. Und ein paar sahen sehr seltsam aus. Da waren Knochen, an denen große Füße mit drei Zehen hingen, und andere (konnten das Schädel sein?), die mit etlichen langen Hörnern bewehrt waren.
»Ah!«, vernahm er eine Stimme in unmittelbarer Nähe. »Wie ich sehe, hat sich noch immer niemand um das Mahl gekümmert.«
Er erschrak und sah, dass Ofelia hinter ihm stand und in den Raum blickte. Colette und die Hofdamen warteten hinter ihr.
»Es tut mir leid, Mylady«, sagte er. »Ich wollte nicht neugierig sein. Da war nur dieser Geruch, und …«
»Entschuldige dich nicht, mein Lieber«, beruhigte sie ihn. »Dir ist kein Vorwurf zu machen. Unsere Feste sind stets die verlockendsten der ganzen Welt. Ein Hauch ihrer vielen Düfte reicht, um einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Immerhin ergehen wir uns stets in den schwelgerischsten Vorbereitungen und nutzen nur erlesenste Zutaten.«
George betrachtete die gehörnten Schädel auf einem der Teller. »Erlesenste?«
»Oh ja«, bekräftigte sie. »Beispielsweise haben wir vergangene Nacht gerösteten Strauß mit Trüffelfüllung verspeist, dazu Barbacoa von jungem Rhinozeros und ein ganz ausgezeichnetes Blauwalfilet, bei dessen Zubereitung auf alles Unnötige verzichtet wurde. Das Fett dieses Filets ist so saftig, dass man kaum etwas daran tun muss.«
»Ihr … Ihr esst solche Dinge?«
»Wir dinieren hier mit vielen Speisen«, sagte sie. »Die seltensten, fremdartigsten und ausgefallensten sind zugleich die besten Speisen.«
»Ich glaube, ich verstehe. Wird unser Geschenk Teil des heutigen Festmahls sein?«, fragte George.
Das fahle, reglose Gesicht der Dame neigte sich nach vorn, um auf ihn herabzustarren. »Ja, wir werden heute Nacht damit beginnen.«
George, erfüllt von plötzlichem Wagemut, sagte: »Wenn ich fragen darf, was hat Silenus Euch angetan, Mylady?«
»Mir?«, gab die Dame zurück. »Mir hat er nichts angetan.« Sie drehte sich um und zeigte auf etwas. Weit unten in dem Gang hing ein außergewöhnlich großes Porträt einer hochgewachsenen, majestätisch aussehenden Frau mit blasser Haut und rabenschwarzem Haar. Sie trug keine Maske und schaffte es irgendwie, zugleich herrisch und gütig auszusehen. George erinnerte sie an seine Großmutter, was in ihm ein Gefühl des Bedauerns auslöste. Am unteren Rand des Rahmens sah er eine Bronzeplakette, auf der ein Wort geschrieben stand, das er sogar aus dieser Entfernung lesen konnte: TITANIA.
»Eure Mutter?«, fragte er.
Sie nickte. »Sie war … ein großer Bewunderer von Silenus. Der Leiter eurer Truppe ist ein abgefeimter, listiger Mann. Bis heute kann ich nicht sagen, ob er sie getäuscht hat, oder ob sie getäuscht werden wollte. Das mag die wahre Natur seiner Kunst sein. Das Geschenk, das er mir heute übergeben hat, ist sowohl ein unerhört kostbarer Schatz als auch ein liebevolles Angedenken an ihre Hofhaltung … ich nehme an, ich werde ihn rationieren müssen und ihn nur ein Mal in, sagen wir, einer Dekade trinken, vielleicht zum Jahrestag ihres Ablebens. Aber nein. Wir werden ihn heute Nacht austrinken, vermute ich.«
»Ihr werdet alles noch heute Nacht trinken?«, fragte Colette.
»Oh ja«, sagte die Dame. »Wir haben schon vor langer Zeit beschlossen, unser Leben ohne Einschränkungen zu genießen, meine Liebe. Das ist die einzig angemessene Art, seine letzten Tage zu verbringen.«
»Was bedeutet das?«, wollte George wissen.
»Du glaubst doch sicher nicht, dass all dies noch viel länger fortdauern kann, Kind? Seit die Dunkelheit erstmals in Erscheinung getreten ist, wussten wir, dass wir nicht ewig überdauern können. Also, ehrlich, was ist es wert, dass wir unsere
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