Silenus: Thriller (German Edition)
schließlich trug auch er einen Teil in sich und hatte gerade erst einen weiteren, winzigen Teil absorbiert (und was für eine enorme Bürde musste die ganze Weise erst darstellen, überlegte er), und da in Silenus’ Überseekoffer keine Spur der Weise gewesen war, nahm er nun an, dass sie nie dort verstaut gewesen war, sondern in Stanley. Aber wenn Stanley wirklich die Weise in sich trug, dann würde das … es würde ohne jeden Zweifel beweisen, dass Stanley ein Angehöriger der Familie Silenus war und damit auch ein Verwandter von George selbst.
Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf. War Stanley in Wahrheit sein Onkel oder sein Cousin oder womöglich sogar sein Bruder? Warum hatte er das dann nie gesagt? Noch verstörender war, dass also nie Silenus derjenige gewesen war, der die Weise getragen hatte, sondern Stanley . Es war immer Stanley gewesen, er war der wahre Träger der Weise. Warum hatte Silenus gelogen? Und warum trug er sie nicht? War es möglich, so fragte er sich matt, dass Silenus sie gar nicht tragen konnte?
Sollte das der Fall sein, so hieß das auch, dass Silenus nicht sein Vater sein konnte. Genauso wenig konnte er Stanleys Vater sein, wie George kurz überlegt hatte. Harry hatte ihm erzählt, die Fähigkeit, die Weise zu tragen, würde von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Und wenn Silenus nicht sein Vater war, dann …
Plötzlich dachte George daran, wie Stanley ihn immer beobachtet hatte, wie er stets darum bemüht gewesen war, ihn zu berühren, zu halten. Er dachte an Dutzende kleiner Gaben, hundert kleine Gefälligkeiten, tausend tröstliche Gesten. Er dachte daran, wie ihm der Mann seine Uhr angeboten hatte, nachdem er liebevoll mit dem Knopf zum Aufziehen gespielt hatte, was verriet, dass er ihm etwas hatte schenken wollen, das ihm sehr am Herzen gelegen hatte. Und er erinnerte sich, wie außer sich Stanley gewesen war, als George ihm erklärt hatte, er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Ein Bild tauchte aus den Tiefen seines Gedächtnisses auf: Stanley, der auf dem verschneiten Dach des Theaters außerhalb von Chicago stand und mit schrecklich alt und traurig aussehenden Augen seine Tafel hochhielt. Und auf der Tafel stand geschrieben: DEIN VATER LIEBT DICH, GEORGE. BITTE VERGISS DAS NICHT. MIR ZULIEBE.
George blickte hinab auf die Karte, die er jetzt in der Hand hielt. Dort stand: DU BIST DAS WUNDERBARSTE, WAS MIR JE GEGEBEN WAR. ICH LIEBE DICH.
»Oh nein«, flüsterte George. »Nein, nein, nein. Nein, das kann nicht sein, es kann … es kann einfach nicht sein .«
»Was?«, fragte Colette.
George stürzte voran und riss die Kulisse fort. Er sah, wie Hunderte von dunklen Gestalten zwischen den Bäumen hervorquollen und Stanley jaulend hangabwärts jagten, und er schrie vor Furcht und Verwirrung und machte Anstalten, hinter ihnen herzustürzen.
Colette sprang auf und packte ihn, um ihn davon abzuhalten. »George, was hast du vor?«
»Lass mich los!«, kreischte er. »Lass mich los! Lass mich los!«
»Das kann ich nicht machen. Wir müssen den Hügel rauf!«
»Du verstehst nicht!«, brüllte er. »Lass mich los! Ich muss zu ihm, ich muss!«
»Wirst du wohl still sein, ehe sie auf uns aufmerksam werden?«, sagte sie.
Aber George stemmte sich gegen sie und versuchte erneut, sich zu befreien. Colette biss die Zähne zusammen, schleuderte ihn zu Boden und ergriff einen ebenmäßigen Stein. »Tut mir leid, George«, sagte sie und versetzte ihm mit dem Stein einen nicht allzu harten Schlag auf den Kopf.
Er war ausreichend. George wimmerte kurz, doch dann schloss er die Augen, und sein Kopf fiel zurück, und er blieb regungslos liegen.
»Er hat gesagt, wir müssen den Hügel hinauf«, sagte sie, hob ihn hoch und warf ihn über eine Schulter, ehe sie sich an den langsamen Aufstieg auf den Hügel machte. »Und genau das werden wir tun.«
32
„WAS GESCHEHEN SOLL,
WIRD GESCHEHEN.“
Für lange Zeit gab es für George nur Finsternis. Dann war da eine Stimme, die im Dunkel sang, und ein Licht tauchte vor ihm auf. Es war nicht allzu hell, aber es war ein sehr warmes Licht, und als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah er, dass das Licht ein perfektes Quadrat bildete und dass das Quadrat geviertelt war. Schließlich erkannte er, dass er ein Fenster in der Dunkelheit sah, das hoch oben in einem Haus aufleuchtete, und etwas regte sich hinter ihm.
Der Gesang veränderte sich, nur ganz leicht, und der Sternenhimmel senkte sich herab, und als sein sanftes
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