Silenus: Thriller (German Edition)
des Lichts für mich. Es war sehr gut zu mir. Eigentlich wäre ich gern noch gestorben. Das kommt mir ebenso wichtig vor wie leben.« Dann erstarb das Lächeln. »Sie werden euch hier bald wittern, ist euch das klar?«
Beide nickten.
»Gut. Ich werde sie, so gut ich kann, von euch weglocken. Ich weiß nicht, wie wirkungsvoll das sein wird – die meisten meiner Leute trauen mir nicht mehr … und ohne euer Stück des Lichts weiß ich nicht, ob ich der bleibe, der ich bin. Vielleicht werde ich euch verraten.« Sein Blick fiel auf seinen Ärmel, der nun nicht mehr so leuchtend rot war wie zuvor. Wahrscheinlich würde er bald wieder grau sein. »Ich hoffe, ich werde es nicht tun, aber ich weiß es nicht. Ihr werdet eure Zeit weise nutzen und schnell handeln müssen.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Colette.
» Ich weiß das nicht«, sagte der Wolf. » Ihr seid diejenigen, die das Licht schon so lange getragen haben. Was tut ihr normalerweise in so einer Lage?«
George und Colette wechselten einen angsterfüllten Blick.
»Was immer es ist«, sagte der Wolf, »ich wünsche euch viel Glück. Ich hoffe, ihr schafft es. Verhaltet euch jetzt ruhig. Es dauert nicht lange, dann könnt ihr handeln.« Er nickte ihnen zu, streckte die Hand aus und ergriff eine Seite der Kulisse. Dann atmete er tief ein, katapultierte sich aus der Grube und rief: »Ich habe sie den Hügel wieder runterlaufen gehört! Hierher! Folgt mir!«
George und Colette saßen noch einen Moment schweigend da und lauschten dem Knurren, das dem Wolf hangabwärts folgte. »Also … was tun wir normalerweise in so einer Lage?«, fragte Colette.
George schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
31
„DU BIST DAS WUNDERBARSTE,
WAS MIR JE GEGEBEN WAR.“
Hügelabwärts und weit im Westen von der Stelle, an der sich George und Colette versteckten – weit genug, um nichts von der Hetzjagd der Wölfe zu hören, aber nicht weit genug, nichts davon zu sehen, wenn man nur einen passenden Aussichtspunkt hatte –, lag Annie zerschlagen und beinahe am Ende auf dem Boden eines alten Eisenbahnwaggons und war doch noch nicht ganz tot. Die Elfen hatten sie geschlagen und ihr sogar die Kehle aufgeschlitzt, aber die Mechanismen, die ihren Körper während des letzten halben Jahrhunderts angetrieben hatten, wurden durch oberflächliche Schäden wie gebrochene Knochen und zerfetztes Fleisch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie weinte, teilweise wegen der Schmerzen, vor allem aber, weil sie es nicht ertragen konnte, an den Verrat zu denken, den sie begangen hatte.
Aber das war nur der Anfang der Qualen. Während sie da lag und weinte, fragte sie sich bisweilen, warum sie weinte. Etwas Schlimmes war passiert … aber wann, überlegte sie. War es gestern gewesen? Oder irgendwann kürzlich? Und warum war sie überhaupt in einem Eisenbahnwaggon? Und dann erinnerte sie sich mit einem entsetzten Schluchzen daran, was passiert war und wie sie an diesen Ort gekommen war. Aber es dauerte jedesmal länger, bis die Erinnerung einsetzte.
Sie verlor sich, Erinnerung um Erinnerung. Sie wusste, sie würde bald alles vergessen und wäre wieder verloren in diesem grässlichen Stumpfsinn.
Sie setzte sich auf und sah sich, gepeinigt von einem dumpfen, schleichenden Entsetzen, in dem Waggon um und versuchte, sich zu erinnern, warum sie dort war und was passiert war und wer sie war. »Mein Name ist Anne Sillenes«, flüsterte sie schließlich vor sich hin. »Mein Name ist Anne Sillenes. Anne Marie Sillenes. Du bist Anne Marie Sillenes. Du bist, du bist …«
Dann ertönte ein Pochen an der Waggontür. Sie drehte sich um und lauschte. Einen Moment später klopfte es wieder.
»Was?«, fragte sie mit knirschender Stimme. Sie musste sich eine Hand an die klaffende Wunde in ihrer Kehle halten, um vernehmbare Worte zu bilden. »Wer ist da?«
Kurz herrschte Stille, dann ein weiteres Pochen. Sie setzte sich auf, auch ihr Rücken knirschte, und schaute zur Tür. Ein kleiner Fetzen Papier war durch die Ritze am Boden geschoben worden.
»Was ist das?«, fragte sie.
Wieder ertönte ein Pochen.
Eine Weile starrte sie den Zettel nur an. Dann sagte sie: »Es gab … einen Mann, der mir immer Dinge geschrieben hat … Stanley? Bist du Stanley?«
Ein Pochen.
»Was willst du, Stanley? Warum lässt du mich nicht wenigstens hier raus?«
Der Türgriff wackelte, und sie erkannte, dass er abgebrochen oder verbogen war, und Stanley ihr zeigen wollte, dass er die Tür nicht öffnen
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