Silenus: Thriller (German Edition)
konnte.
»Was willst du denn?«, fragte sie.
Stille. Sie legte die Stirn in Falten, als ihr bewusst wurde, dass das keine sonderlich intelligente Frage war. Was er wollte, hatte er offensichtlich auf den Zettel geschrieben. Annie mühte sich hinüber und ergriff ihn mit unbeholfenen Fingern. Sie hielt ihn vor ein kleines Loch im Dach des Eisenbahnwaggons, um ihn im Mondschein zu lesen.
Es fiel ihr schwer zu lesen, was er ihr geschrieben hatte. Sie wusste , dass sie lesen konnte, man hatte sie das Alphabet gelehrt … aber nun kam es ihr plötzlich so schwer vor. Sie kniff die Augen zusammen, als sie die Worte studierte. Wie es schien, wollte er, dass sie etwas mit etwas anderem tat – dem Eisenbahnwaggon? –, und dann, am Ende, erwähnte er eine Frau. Das verwirrte sie, doch dann stellte sie fest, dass er das Wort falsch geschrieben hatte. Ein Buchstabe schien verkehrt zu sein, falls sie sich richtig erinnerte.
Und dann verstand sie. Es ging nicht um eine Frau.
»Warum willst du, dass ich das tue?«, fragte sie.
Eine weitere Nachricht glitt unter der Tür hindurch. Diese war auf ein Stück Stoff geschrieben worden und lautete schlicht: GEORGE UND COLETTE.
Eine Weile starrte sie die Notiz nur an. Dann lief eine Handvoll Erinnerungen in ihrem Geist zusammen. Da hatte es doch Kinder gegeben, nicht wahr? Ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge, beide hochmütig, aber auch beide so süß, hübscher als Gänseblümchen, die kleinen Schätzlein …
Dann wurde ihr erst klar, was er da von ihr verlangte. »Das kann ich nicht!«, rief sie. »Ich kann nicht helfen! Ich bin kaputt, Stanley. Mir tut alles weh. Und ich habe noch nie etwas so Schweres gehoben.«
Stille.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.«
Immer noch Stille. Dann ein einzelnes Pochen.
Was ihr dieses Pochen sagen sollte, war schwer zu deuten. Vielleicht hieß es, doch, du kannst, oder es drückte aus, dass er verstanden hatte und sich etwas anderes überlegen würde, aber vielleicht war es auch schlicht ein Zeichen von Enttäuschung. Doch was immer die Absicht hinter diesem Pochen im Dunkeln gewesen sein mochte, Annie sagte es ganz einfach, dass sie musste, sie musste, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Wieder kamen ihr die Tränen. »Schon gut«, keuchte sie. »Schon gut, ich werde es versuchen.«
Wieder ein Pochen. Annie nickte, auch wenn er das natürlich nicht sehen konnte. Dann kroch sie zurück in die Mitte des Eisenbahnwaggons. Ihr linker Arm war gebrochen, und sie musste den Knochen allein richten. Sie biss die Zähne zusammen und schaffte es mit einer entsetzlichen Drehung, ihn beinahe in die richtige Position zu bringen. Probeweise bewegte sie die Finger. Sie knackten nervenaufreibend, aber sie funktionierten.
Nun suchte sie in dem Waggon nach einer Schwachstelle, brachte sich ins Gleichgewicht und fing an, dagegenzutreten.
Stanley seufzte erleichtert, während er dem Donnern aus dem Inneren des Waggons lauschte. Er untersuchte den Waggon von allen Seiten und entdeckte eine verrostete Kette und ein Schloss, das an dem Geländer am Ende des Waggons hing. Er nahm sie ab und wog sie stirnrunzelnd in den Händen. Ein Seil wäre ihm lieber gewesen, aber die Kette würde es auch tun.
Er ging zum Waldrand und hob seinen Fetzen der Kulisse auf. Er flackerte wie eine schadhafte elektrische Lampe, beinahe, als litte das Ding Schmerzen, aber es konnte immer noch die Bäume und Äste des Waldes nachahmen, wenn es nur wollte. Stanley kauerte sich zu Boden und studierte die Umgebung.
Voraus und zu seiner Linken verlief der Damm, ragte hoch auf wie eine kahle, graue Klippe. Ebenfalls vor ihm, aber zu seiner Rechten erhob sich der Hügel, erreichte bald die Höhe des Damms und verbarg seinen Gipfel unter Bäumen. Er konnte gerade noch gebeugte schwarze Gestalten durch die Wälder springen sehen, und irgendwo dort mussten sich Colette und George befinden.
Er wusste, Harry würde nicht wollen, dass er das tat. Er sollte davonlaufen und sich selbst retten. Das war die einzige dauerhafte Anweisung, die Harry ihm erteilt hatte: immer fliehen und immer das eigene Überleben sichern. Aber Stanley war es leid, davonzulaufen, und nun hatte er einen wahrhaft großartigen Grund, damit aufzuhören.
Er klemmte sich die Kette in den Gürtel, warf sich den Kulissenfetzen über wie einen Mantel und fing an, den Hang hinaufzukriechen.
Im Gegensatz zu den Wölfen würde Stanley keine Probleme haben, die zwei zu finden. George konnte er
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