Silenus: Thriller (German Edition)
Licht in sein Blickfeld strömte, wurde George bewusst, dass er das Haus seiner Großmutter vor sich sah, genau das Haus, das er noch vor weniger als einem Jahr als sein Zuhause bezeichnet hatte. Aber die Eiche im Vorgarten war nicht ganz richtig, wie ihm auffiel. Sie war nicht annähernd so groß oder breit, wie er sie in Erinnerung hatte.
Das habe ich schon einmal gesehen, dachte George. Da ist jemand unter dem Baum.
Und so war es. Ein Mann stand im Schatten unter dem Baum, und während George immer noch ganz vage die Erste Weise in den Ohren hatte (wo kam das nur her, fragte er sich. Träumte er nur?), öffnete der Mann den Mund, und aus ihm erklang die Erste Weise ebenfalls. Beide Gesänge bildeten ein Duett, einer schien von überallher zu kommen, der andere allein von dem schattenhaften Sänger.
Ein Mädchen trat an das Fenster seines Zimmers, öffnete und schaute heraus. Der Gesang brach ab, und die junge Frau winkte. Gleich darauf wich sie zurück und schloss das Fenster. Dann erlosch das Licht, und der Mann unter dem Baum strich sich nervös die Haare und die Kleider glatt.
Jemand rannte die Stufen der vorderen Veranda herab. Es war die junge Frau, die am Fenster gestanden hatte. Und als sie sich aus dem Schatten des Hauses löste, sah George, dass es seine Mutter war.
Sein Mund klappte auf. Er hatte sie nie kennengelernt, hatte keinerlei Erinnerung an sie. Er hatte nur Fotos von ihr gesehen, auf denen sie ihm wie ein blässliches, einsam wirkendes junges Mädchen erschienen war, aber gewiss nicht wie eine Frau. Doch die Person, die nun barfuß über den Rasen seiner Großmutter lief, war unverkennbar eine Frau mit langem, fließendem braunem Haar und einem strahlenden, glücklichen Lächeln. Zu seiner großen Verblüffung stellte er fest, dass sie unglaublich schön war. Und sie konnte nicht viel älter sein, als George es jetzt war.
»Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest!«, sagte sie, ohne im Schritt innezuhalten.
Die Person unter dem Baum schien mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Als sie fertig war, trat sie hervor, und George sah, dass es sich um einen großen, hageren jungen Mann in einem höchst steifen Anzug handelte. Er lächelte, und er hielt einen Skizzenblock in der Hand, auf dem geschrieben stand: WIE KÖNNTE ICH DEINEM LIEBREIZ WIDERSTEHEN?
George keuchte auf. Das war Stanley, auch wenn er kaum wiederzuerkennen war. Sein Haar war nicht glatt und blond, sondern kohlrabenschwarz und voller wilder Locken, eine Jünglingsfrisur wie aus dem Bilderbuch, die allerdings vage Ähnlichkeit mit Silenus’ Schopf hatte, wann immer der nicht mit Pomade gebändigt war. Stanleys Sinn für Mode war noch unentwickelt – seine Krawatte war schief, und er hatte ein zusätzliches Loch in seinen Gürtel stechen müssen, um ihn seiner schmalen Statur anzupassen –, aber er war es eindeutig, wenn auch noch keine zwanzig Jahre alt.
Alice Carole stürzte sich in seine Arme, und er fing sie geschickt auf und wirbelte sie herum. Sie lachte, während in seinem Gesicht ein überbordendes Grinsen prangte, und dann küssten sie sich. »Tu’s noch mal«, sagte sie. »Sing noch mal für mich.«
Er setzte sie ab, legte den Arm um sie und führte sie vom Haus fort und hinüber zu den Cortsenfeldern, die George so gut kannte. Er öffnete den Mund und fing sehr leise an, die Erste Weise zu singen. Alices Lider flatterten, als sie seinem Gesang lauschte. Als er fertig war, sagte sie: »Das ist so schön. Warum singst du es nicht öfter? Für alle Menschen? Ich wette, damit könntest du ganze Theater füllen.«
Er zog seinen Skizzenblock hervor (George sah nun, dass er ihn mit einer Schnur um die Schulter geschlungen hatte) und schrieb: MEIN ONKEL FÜRCHTET, ES KÖNNTE GESTOHLEN WERDEN.
»Der Mann war dein Onkel?«, fragte sie. »Der gemeine Kerl?«
Er blätterte eine Seite weiter und schrieb: GROSSONKEL. UND ER IST NICHT GEMEIN. ER IST IN TRAUER.
»Um wen trauert er?«
SEINE FRAU.
»Oh«, sagte sie. »Dann tut es mir leid, dass ich ihn gemein genannt habe. Hast du sie gekannt?«
Stanley schüttelte den Kopf. SIE IST VOR LANGER ZEIT GESTORBEN.
»Dann muss er sie sehr geliebt haben, wenn er immer noch trauert. Ich wünschte, ich wüsste, wie das ist, so sehr geliebt zu werden.« Sie lächelte verschmitzt.
Stanley hielt sie auf und wirbelte sie herum, schüttelte lächelnd den Kopf und küsste sie.
»Wirst du mich verlassen?«, fragte sie ihn, und dieses Mal scherzte sie nicht.
Er schüttelte den
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