Silenus: Thriller (German Edition)
jederzeit aufspüren, wenn er nach ihm suchte.
George und Colette lagen zitternd unter der Kulisse. Sie hatten diverse Möglichkeiten erörtert und doch immer noch keine Ahnung, was sie tun sollten. Wie sehr sich der Wolf in Rot auch bemühen mochte, die anderen hangabwärts zu locken, sie konnten immer noch Wolfsgeheul hören, das weiter oben aufklang. Bisher hatten die Wölfe sie noch nicht gefunden, aber sie wussten, dass das nicht mehr lange so bleiben würde.
Sie hörten Schritte in hohem Tempo herannahen, aber es hörte sich nicht nach den mächtigen Pfoten der Wölfe an, sondern vielmehr nach normalen, menschlichen Füßen, möglicherweise umhüllt von einem Paar Schuhe.
Zum zweiten Mal wurde die Ecke der Kulisse angehoben, doch dieses Mal war es nicht der Wolf in Rot. Es war Stanley, eingehüllt in sein eigenes Stück Kulisse, das für einen Moment aussah wie Baumrinde. Doch als er ganz hereingeschlüpft war, fing es an, garstig zu flattern, als hätte es einen Schlaganfall erlitten.
»Was machst du …«, setzte Colette an, doch Stanley reckte sogleich einen Finger hoch. Er griff in seine Tasche und zog ein Stück Pappe hervor. Darauf standen die Worte: IHR MÜSST DEN HÜGEL WEITER HINAUFSTEIGEN. SO HOCH IHR KÖNNT.
»Was?«, fragte Colette. »Nein! Wir können hier nicht raus. Sie würden uns entdecken!«
Stanley schüttelte den Kopf und zog ein weiteres Stück Karton hervor. Offenbar hatte er bereits mit diesem Einwand gerechnet, denn auf dem Karton stand schlicht: ICH SORGE FÜR ABLENKUNG.
»Was für eine Art Ablenkung?«, fragte George. »Ein Freund von uns hat das bereits versucht, aber es scheint nicht funktioniert zu haben.«
Ein gepeinigter Ausdruck huschte über Stanleys Gesicht, und er gab einen ärgerlichen Laut von sich. Anscheinend hatten ihm nur wenige Karten zur Verfügung gestanden, also hatte er nicht jede mögliche Antwort notieren können. Er zuckte mit den Schultern.
»Sollen wir jetzt gehen?«, wollte Colette wissen.
Er nickte und wackelte mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Bald, sehr bald, schien er sagen zu wollen. Dann schaute er zu George auf. Stanleys Augen leuchteten, waren jedoch tränennass, und er atmete schrecklich schwer. Er bedachte George mit einem unsicheren Lächeln und reichte ihm eine weitere Karte, doch ehe George sie lesen konnte, riss ihn Stanley kraftvoll in seine Arme und seufzte schwer. Dann ließ er los, küsste ihn auf die Stirn, hob die Kulisse an und schlüpfte wieder hinaus.
Colette lugte hinaus und sah, wie Stanley den Hang hinunterspurtete. »Was hatte das zu bedeuten?«
George war kurz davor, ihr von Stanley und der sonderbaren Affenliebe zu erzählen, mit der jener an ihm hing, doch dann hörten sie ein Geräusch, das ihnen vertraut war: Es war der Klang vieler Stimmen, Tausender, und alle sangen viele, viele Noten in einer ätherischen, gespenstischen Tonlage, die einem die Haare zu Berge stehen ließ. All das Knurren und Grollen im Wald erstarb bei diesen Klängen.
George kauerte sich neben Colette. »Was ist das?«, fragte er. »Ist das die Weise ?«
George sah zu, wie Stanley über eine kleine Grube am Boden sprang, und als er das tat, erfasste ihn der Mondschein. Er hatte den Mund geöffnet, die Augen beinahe geschlossen, und seine Lippen bewegten sich; es schien, als bewegten sie sich mit der Weise, folgten ihr und artikulierten vielleicht die vielen Veränderungen in der Tonlage. Je weiter er sich entfernte, desto leiser wurde die Weise, aber sie konnten sie immer noch durch die Bäume hallen hören.
»Hat … hat er sie gesungen?«, fragte George schwach. »Hat er die Erste Weise gesungen ?«
»Es … es hat jedenfalls ganz so ausgesehen«, sagte Colette. »Aber ich habe nie gehört, dass er etwas anderes getan hätte als Cello spielen, wenn ich mit ihm auf der Bühne war …«
Dann brüllte eine Stimme im Wald: »Da ist es! Er hat es! Er trägt es bei sich und versucht, sich damit fortzustehlen!«
»Er trägt es nicht, ihr Narren!«, ertönte eine andere. »Es ist in ihm! Das Licht ist in ihm.«
George blieb die Luft weg, als er das hörte. »Was?«, flüsterte er. » In ihm?«
Er starrte Stanley nach, als der durch den Wald flüchtete. Konnte das stimmen? War das geheime Versteck der Weise gar keine Kiste oder Laterne oder irgendein Trick, sondern Stanley selbst? Hatte er während all dieser Zeit die ganze Weise in sich getragen? Georges Geist weigerte sich zu verstehen, und doch wusste er, dass es möglich war,
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