Silenus: Thriller (German Edition)
aber er brach nicht auseinander und zerfiel nicht in seine Einzelteile, und sie wandte den Blick nicht ab von dem schimmernden Meer, das vor ihr lag; sie wollte sich mit ihm vereinen, wollte hinausspringen zu all diesen Sternen, und vielleicht würde sie dann schweben, würde zwischen all diesen tanzenden Lichtern hängen, und vielleicht, nur vielleicht, konnte sie dann endlich schlafen.
Als sie die Stelle erreichte, an der der Hügel steil zum Damm abfiel, kauerte sie sich mit dem Eisenbahnwaggon auf dem Rücken herab und sprang ab. Sie fühlte, wie sich ihre Füße vom Boden lösten, hörte den Waggon hinter sich von den Felsen gleiten. Die Achse riss sie wieder und wieder herum, als der Waggon Purzelbäume schlagend auf den Damm hinabstürzte, und als sie herumgewirbelt wurde, verschwammen die Grenzen von See und Himmel noch mehr als zuvor, bis die ganze Welt um sie herum ein sterngesprenkelter Himmel war, und sie schloss die Augen, verschränkte die Arme und wartete lächelnd darauf, dass der Schlaf sie übermannen würde.
Stanley sah zu, wie der Damm, entgegen seiner Annahme, nicht einstürzte, sondern sich öffnete wie ein Reißverschluss, als der Eisenbahnwaggon ihn an der Südseite glatt aufspaltete und sich das Gemäuer donnernd Stück um Stück auflöste. Er glaubte, eine kleine Gestalt mit dem Waggon fallen zu sehen, die aussah wie eine Flickenpuppe. Bei dem Anblick setzte sein Herz aus, und er ächzte leise und umklammerte den Baum noch fester.
»Lauft!«, rief einer der Wölfe unter ihm. »Lauft weg!«
Aber dafür war es zu spät. Zwar versuchten die Wölfe zu fliehen, doch sie waren am Fuß des Damms, und das Wasser brandete bereits auf sie herab. Es war eine gewaltige Woge, eine schiere Wand aus Wasser, und als sie auf Stanley zukam, sah er, dass sie viel größer war, als er angenommen hatte, ganz sicher groß genug, um auch ihn zu erwischen. Er wickelte die Kette um einen Arm und sah mit geweiteten Augen zu, wie das Wasser auf ihn zudonnerte.
In diesem Moment erkannte er, dass manche Situationen, wie schlimm sie auch sein mögen, eine minimale Aussicht auf geradezu unerhörtes Glück bergen, die es erlaubt, zu glauben, man könnte überleben; doch als Stanley diese gewaltigen Wassermassen auf sich zustürzen sah, wusste er auch, dass dies keine solche Situation war. Die mächtige Woge verschlang bereits die Bäume zu beiden Seiten des Flusses, Bäume, die viel standfester waren als seiner, und seine Kette und der Griff, mit dem er sich an dem Stamm festhielt, hätten den niederstürzenden Tonnen nicht mehr entgegenzusetzen als Papier.
Während er zusah, wurde ihm bewusst, dass er tief im Herzen stets gewusst hatte, dass es genauso hatte kommen können, und dennoch war er nicht vom Weg abgewichen. Doch er empfand kein Bedauern und keine Furcht. Das Einzige, woran er dachte, war George. So kurz seine Zeit mit seinem Sohn gewesen war, so sehr er zugelassen hatte, dass seine Pflicht zwischen ihm und seinem Kind gestanden hatte, würde diese letzte Tat doch das wertvollste Geschenk sein, das er ihm je hatte machen können.
Und außerdem, so überlegte er weiter, war er unendlich müde davon, die Weise zu tragen. Sie war inzwischen so schwer geworden, so unglaublich schwer. Und als er die ersten Spritzer der auf ihn zukommenden Wassermassen spürte, fragte er sich, ob ihm dies vielleicht Frieden bringen würde.
35
DER GEHÄNGTE
Colette drehte sich um, als sie den Eisenbahnwaggon in den Damm krachen hörte, und sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie das Wasser aus der einstürzenden Wand hervorschoss und sich in das Flusstal ergoss. »Oh nein«, sagte sie und legte George auf dem Boden ab, um sich den Rest des Spektakels anzusehen. Kleine Bäume versanken in den Fluten, größere neigten sich in unangenehmer, trunkener Weise zur Seite. Sie sah dunkle Gestalten in dem Wasser treiben, doch sie schienen kraftlos zu sein, gebrochen, und sie verschmolzen schon im nächsten Moment wieder mit den Schatten.
George drehte sich stöhnend um. Dann setzte er sich auf und rieb sich den Kopf. »Was ist passiert?«, fragte er.
Colette deutete nur in die Tiefe. George folgte der Richtung, und sein Mund klappte auf. »Was ist passiert?«, fragte er erneut.
»Jemand hat den Damm zerstört«, sagte sie. »Ich nehme an, es war Stanley. Es sieht aus, als hätte er die Wölfe weggespült. Kann Wasser die Wölfe töten?«
»Irgendwie, schätze ich … Franny hat einen mit bloßen Händen getötet«,
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