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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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verdichtete, nahm sie wieder die Form von Männern in grauen Anzügen an. Jenseits der Frontlinie jedoch verschwammen die Konturen und hinterließen nur Schatten und obskure Bewegungen. All die leeren, grauen Augen fixierten Stanley.
    »Wir haben dich auf einen Baum getrieben?«, fragte eine ruhige, tiefe Stimme unter ihm. »Soll es so enden? Wie entwürdigend.«
    Stanley antwortete nicht, sondern klammerte sich noch fester an den Baum.
    »Ein paar Fuß machen nichts«, sagte der Wolf unter dem Baum. »Nicht für das, was bevorsteht. Wie furchtbar das sein muss, all das in dir zu tragen. Beinahe so furchtbar, wie es für uns ist, mit dieser Welt zu leben, die in uns wuchert wie ein Tumor. Niemand von uns will gebrochen sein. Wir möchten wieder ganz werden. Und bald werden wir es sein.«
    Die Geräusche des Flusses wurden leiser, und Stille trat ein. Es war ein Gefühl, das George viele Male beschrieben hatte, das Stanley selbst jedoch noch nie wahrgenommen hatte; die Weise wirkte sich auf verschiedene Personen verschiedenartig aus, je nachdem, welchen Teil die Person in sich trug. Doch nun erfuhr er den tiefen Schrecken, den das Gefühl mit sich brachte, die ganze Welt würde von ihm abfallen, Stück um Stück, und er öffnete ein Auge um einen kleinen Spalt, um nachzusehen, was sie taten.
    Der Fluss vor dem Damm war so ruhig und still wie ein Spiegel. Vorhin hatte Stanley noch die Felsen auf seinem Grund sehen können, aber nun wirkte der Fluss sonderbar finster. Es war, als hätte sich in seiner Mitte ein dunkler Spalt gebildet, der sich immer weiter ausbreitete, bis all die Felsen und das Wasser fort waren und er in einen endlosen Abgrund blickte. Nur, dass da unten am Boden dieses Abgrunds etwas war, etwas unfassbar Großes, das zu ihm heraufblickte und darum kämpfte, sich einen Weg hinaus zu bahnen.
    Stanley erinnerte sich, was George von seinem Erlebnis in den niedergebrannten Ruinen seines Theaters erzählt hatte. Dort hatten die Wölfe etwas aus den Schatten hergerufen, hatten etwas Furchtbarem einen Namen und eine Eingangsöffnung gegeben …
    »Ja«, sagte der Wolf. »Er kommt, um dich zu holen. Siehst du ihn? Fühlst du, wie er dich beobachtet?«
    Doch statt weiter in den Abgrund zu starren, blickte Stanley zum Damm hinauf. Der Wolf, verblüfft über seine Reaktion, folgte seiner Blickrichtung.
    Und starrte blinzelnd den Damm an. »Was ist das?«, fragte er.
    Etwas regte sich auf dem Hügel, dort, wo der Damm endete. Es war groß und klotzig und trudelte mit der unglückseligen Geschwindigkeit eines riesigen Käfers über die Hügelkuppe. Dann, als es sich zur Seite neigte und ins Gegenlicht des Mondes geriet, konnten sie die Gestalt einer kleinen, dünnen Frau unter dem Ding sehen, und sie schien dieses riesige Objekt mit großer Entschlossenheit voranzuzerren.
    Die Augen des Wolfs weiteten sich. »Was?«, fragte er. »Moment … Nein, nein!«
    Doch da war es längst zu spät.
    Endlich hatte sie den kleinen Hügel am Rande des Damms erklommen. Die Mühsal, den Eisenbahnwaggon den steinigen Hügel hinaufzuzerren, hatte sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihr Gesicht war in Blut gebadet, seit ihre Augen und ihre Nase bluteten, beide Beine waren gespickt mit Frakturen und Rissen, und die Zehen ihres rechten Fußes waren kaum mehr vorhanden. Dennoch hielten die Inschriften auf ihrer Haut stand, aber sie spürte, dass auch sie in ihren letzten Zügen lagen, also kämpfte sie sich mit schweren, keuchenden Atemzügen auch noch die letzten paar Fuß empor, bis sie endlich über dem See angelangt war. Sie blinzelte das Blut aus ihren Augen und schaute hinab.
    Der Mond war aufgegangen, und nun spiegelte sich sein Antlitz in jedem Winkel auf den Wassern des Sees, Tausende und Millionen kleiner, verzerrter Monde tanzten auf den Wellen. In ihrer Ermattung konnte sie keinen Unterschied mehr erkennen zwischen dem See und dem Nachthimmel; beides war ein schwarzes Meer, getüpfelt mit weißen Schnipseln. Sie wusste nicht einmal, warum sie hier war, aber sie fand den Anblick mächtig schön, geradezu himmlisch, und sie fing an zu lachen.
    Vor sich sah sie den Rand des Damms, und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie wusste, sie konnte den Eisenbahnwaggon nicht hochheben und auf den Damm hinunterwerfen. Folglich blieb ihr nur noch eine Möglichkeit.
    Sie holte tief Luft, bohrte die Füße in den Boden und stemmte sich voran. Der Waggon ächzte, als die verbogenen Räder über die letzten Steine rumpelten,

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