Silenus: Thriller (German Edition)
Familie wurde Unrecht zugefügt: Sie wurden von dem ihnen rechtmäßig zustehenden Thron vertrieben und so dem Verfall anheimgegeben. Ich habe sie im tiefsten Persien entdeckt, wo sie, in Ungnade gefallen, ihre beredte Kunst für ein paar Kupferstücke zum Besten gegeben und um einen Augenblick der Milde gebettelt hat. Und nun, meine hoch verehrten Damen und Herren, haben Sie die seltene Gelegenheit, die Gesänge von keiner Geringeren als Ihrer Majestät Colette de Verdicere, zu hören!«
Der Vorhang blieb unten, also nahm George an, dass dieser Auftritt ein Präludium war, dargeboten im vorderen Bühnenbereich, während hinter dem Vorhang die nächste Nummer vorbereitet wurde. Er sah, wie jemand aus den Kulissen kam und sich aufmachte, in das Scheinwerferlicht zu treten. George achtete nicht darauf, sondern stierte blinzelnd in den Schatten, wohin Silenus verschwunden war.
Dann betrat die Künstlerin endlich die Bühne, und die Frau vor ihm sagte: »Du meine Güte! Wie schön sie ist.«
Geistesabwesend sah George ebenfalls hin, sein Mund klappte auf, und er starrte aus geweiteten Augen auf die Bühne. Und zum ersten Mal seit Tagesanbruch vergaß er Silenus ebenso wie all die Mühen, die er auf sich genommen hatte, um Gast in der Vorstellung seines Vaters zu sein.
Denn George Carole hatte einen Blick auf dieses Mädchen geworfen, und nun konnte er nichts anderes mehr sehen.
4
DER CHORAL
Zwei Dinge sprangen George auf Anhieb ins Auge: ihre Größe und ihre Bräune, beides akzentuiert durch das schimmernde Weiß ihres Kleides und ihrer Strümpfe. Wie sie da über die Bühne tanzte, wirkte sie sehr groß, groß genug, um schon beim kleinsten Fehltritt ins Wanken zu geraten, doch ihr unterlief keiner. In den Händen hielt sie eine kleine Konzertina, und wenngleich es schwer sein musste, sie zu spielen, während sie über die Bühne wirbelte, pumpte sie eine trällernde, fröhliche Melodie daraus hervor und grinste dabei, als wäre es das Einfachste auf Erden. Während George zusah, wie sich ein weiß bestrumpftes Bein bog und im Rampenlicht aufblitzte, fing er ebenfalls an zu grinsen.
Doch es war vor allem die Farbe ihrer Haut, nach der seine Augen suchten, glatt und cremig wie Kaffee mit Milch, braun und glänzend, wo das Licht auf die schlangenhaften Muskeln ihres Rückens traf. Manchmal verschmolz sie beinahe mit dem dunklen Rot des Vorhangs, sodass die Drehungen und Windungen ihrer Arme, auf denen eine kaum wahrnehmbare Andeutung von Bernstein erglühte, nur mühsam zu verfolgen waren. Und über ihrem weiß gekleideten Körper schwebte eine juwelenbesetzte, gefiederte Maske, die ihr Gesicht mit Ausnahme von Mund und Kinn vollständig verbarg. George mühte sich, eine Spur frevelhaft fröhlicher Augen in den Löchern der Maske zu erhaschen, doch es gelang ihm nicht; aber jedes Mal, wenn sie eine Bewegung vollführte, die ihr besonders zusagte, teilten sich ihre kupfernen Lippen und offenbarten eine Reihe makellos weißer Zähne, zart und ebenmäßig wie die eines Kätzchens, und er wusste, irgendwo hinter der Maske umgaben sich zwei Augen mit vergnügten Fältchen.
»Teufel auch«, sagte der Mann, der neben ihm saß, und George empfand ein flüchtiges Verlangen, ihm einen Hieb unters Kinn zu versetzen.
Vage wurde ihm bewusst, dass das Mädchen sang. Er versuchte, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, doch sie schien sich einer fremden Sprache zu bedienen, vielleicht Französisch oder irgendetwas, das exotisch genug war, ihrer fremdartigen Schönheit zu genügen. Dann erkannte George, dass er sich geirrt hatte und sie englisch sang, und er erhaschte einige Zeilen neben dem Brummen und Tuten ihrer Konzertina.
Mothers, please hold tight to your children
Maidens, don’t hold back your sweet songs
For the sun finds its sleep in the far hills
And the time of this world won’t be long
Dance in the meadows, wander down roads
Sing in the forests and glades
Follow the stars to their far-flung cradles
Drink your sweet wines in the shade
Make sure your partings are happy and true
Await the sun’s sparkling and happy debut
Drink in the sky and the scent and the view
For the day of this world shall soon fade
Es war träumerisch und eigen, erzählte von Welten und Leben, von denen George nichts wusste und die er sich dennoch ersehnte. Er sah zu, wie sich das Mädchen bog und wiegte, wie es sich zum Blöken der Konzertina bewegte, und er studierte das kantige Wabern ihres Trizeps oder eines
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