Silenus: Thriller (German Edition)
dem machtvollen Sog dessen, was in Stanley gefangen war, nicht mehr entziehen. Zu Beginn überlegte er, ob er nun, da er wusste, wo sie war, empfindlicher auf die Weise reagierte, doch dann wurde ihm bewusst, dass etwas anderes dahintersteckte: Stanley verlor die Kontrolle über all die Echos, und die fingen an, aus ihm herauszusickern.
Stanleys Hand tastete erneut nach ihm, und George ergriff sie und legte die Handfläche an seine Wange. »Ich bin hier«, sagte George. »Ich bin hier. Ich bin endlich hier.«
Sein Vater nickte lächelnd. Dann legte sich das blasse Gesicht in Sorgenfalten, und er versuchte, George dichter heranzuziehen.
»Was?«, fragte George. »Was kann ich tun?«
Und dann, zum ersten Mal seit so vielen Jahren, sprach sein Vater: »George«, sagte er, und das Wort wurde überlagert von unzähligen Klängen der Ersten Weise. »Es kommt.«
»Was?«, fragte George.
Stanley hob eine Hand und zeigte zum Fluss. George folgte der Richtung. Zunächst sah er gar nichts, aber dann fiel ihm auf, dass es eine seltsame Verdichtung der Schatten in der Mitte des Wassers gab, dichter als die schwärzeste Nacht, und plötzlich war ihm, als lauerten dort zwei Augen, die ihn beobachteten und mit aller Kraft versuchten, zu ihm vorzudringen.
Eis breitete sich auf dem Fluss aus. Bald war das Geräusch des murmelnden Wassers gänzlich verstummt, und es schien, als würde jegliches Licht fluchtartig aus dem Tal weichen. In dem Schatten unter dem Eis ertönte ein Ächzen, so dumpf und leise, dass es kaum zu hören war, und George wusste tief im Herzen, dass dies das Geräusch der Gebeine der Schöpfung war, die zur Seite gedrängt wurden, um etwas hindurchzulassen.
Sie hatten bereits angefangen. Kurz bevor Stanley das Tal geflutet hatte, mussten sie bereits angefangen haben, ihren eigenen Schöpfer herzuholen, die Erste Finsternis. Sie würde nicht zulassen, dass ihr der Lohn verwehrt wurde, nun, da sie so nahe dran war und – vielleicht zum ersten Mal – in der Schöpfung in Erscheinung treten wollte.
»Oh nein«, sagte George. »Nein, nein. Was sollen wir jetzt machen?«
Stanley legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Was?«, fragte George.
Sein Vater krümmte einen Finger. George beugte sich dichter zu ihm.
»Was soll ich tun?«, fragte er.
Stanley legte eine Hand in Georges Nacken und hielt ihn fest. Dann öffnete er den Mund und atmete aus. Und als er das tat, flatterten tausend kleine Lichtadern heraus, gefangen in dem Luftstrom seines Atems, und schossen in Georges offenen Mund hinein. Georges Augen weiteten sich, und er versuchte, sich zurückzustemmen, aber Stanley hielt ihn mit eisernem Griff fest.
Es war wie damals, als George die Weise erstmals in der Nähe von Rinton entdeckt hatte, aber um das Tausendfache stärker. Wieder schien es, als würde sich der Himmel öffnen, als würde etwas unvorstellbar Großes in ihn hineingeleitet, doch dieses Mal ging es einfach immer weiter, ein endloser Strom der Stimmen und Tonlagen erfüllte jeden Punkt in seinem Kopf.
Einige der Echos hoben sich von den anderen ab, und George erkannte, dass Stanley sie ihm in den letzten Augenblicken seines Lebens zeigen wollte. Eines flammte besonders hell auf, und George sah …
… Silenus, der an der Tür seines Büros steht; Stanley sitzt vor dem Erkerfenster. Eine Tasse Tee kühlt neben dem Stuhl vor dem Schreibtisch ab. Ein Junge hat gerade noch auf diesem Stuhl gesessen, aber Silenus hat ihn hinausgeworfen. Nach der Anstrengung atmet er immer noch schwer. Für einen Moment herrscht Stille, als die beiden Männer darüber nachdenken, was der Junge gesagt hat.
»Er glaubt, er wäre mein Sohn«, sagt Silenus. »Er glaubt das wirklich.« Wütend starrt er Stanley an. »Aber das ist er nicht, nicht wahr? Nicht wahr, Stan?«
Stanley, blass und ungläubig zitternd, steht auf und versucht, vorzutreten, fällt aber stattdessen auf die Knie. Tränen schießen ihm in die Augen, und er kämpft für einen Moment mit sich und öffnet den Mund.
»Nein, nein!«, schreit Silenus, eilt hinüber und schlägt Stanley eine Hand vor den Mund. »Ich weiß, es ist schwer, aber du darfst die Konzentration nicht verlieren! Nicht jetzt!«
Stanleys Hand tastet nach der Tafel. Zuerst ist er so aufgeregt, dass er nur kritzeln kann, doch dann schreibt er: MEIN SOHN MEIN SOHN MEIN SOHN.
»Ja, ja«, sagt Silenus und lässt ihn los. »Er ist, wie es scheint, dein Sohn. Und er ist ein Problem. Ein Problem, das wir hätten vermeiden können,
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