Silenus: Thriller (German Edition)
wartete.
Der Wind lebte erneut auf, und eine zweite Person betrat den Hof über einen anderen Weg. Dieses Mal war es eine große, dürre Frau mit langem, schwarzem Haar, das sich zu etlichen kräftigen Locken ringelte. Sie trug einen schweren Matrosenmantel, der an vielen Stellen geflickt worden war, und einen hellblauen Rock, der hinter ihr über den Boden schleifte, bis der Saum vor Schmutz starrte. Ihre Haut war blass, wies dabei aber eine undeutliche Färbung auf, die sie beinahe grau erscheinen ließ. Sie stellte sich an die nächste Ecke des Brunnens und bedachte den Mann mit einem recht kalten Lächeln, das dieser nicht erwiderte.
Dann erhob sich erneut der Wind, und eine dritte Person kam aus der dritten Gasse: ein großer, alter Mann, breitschultrig und mit knotigen, lila angelaufenen Händen. Seine Gesichtshaut war von einem durchscheinenden, bläulichen Rosa, sein Haar und sein Bart, die ihm beide bis zum Bauch reichten, weiß wie Reif. Er trug einen schweren, braunen Anzug, und seine gewaltigen Stiefel donnerten über den Boden, als er den Hof überquerte. Als er seine Ecke erreicht hatte, lächelte er den anderen zu, was beide mit einem zaghaften Nicken quittierten.
Und mit einem letzten Windstoß trat eine vierte Person in Erscheinung, die jedoch ganz anders als die anderen war. Als die Gestalt aus dem Schnee gerannt kam, fragte sich George zunächst, ob er einen Zwerg vor sich hatte, da sie so klein war, doch als sie ins Licht trat, erkannte er, dass es sich um ein kleinwüchsiges, unscheinbares Mädchen von etwa achtzehn Jahren handelte, das ganz in Grün gekleidet war. Ihr Haar hatte einen ölig-goldenen Glanz, und ihre Wangen waren apfelrot, als hätte sie gerade erst viele Stunden in der Sonne zugebracht. Sie hatte große grüne Augen und einen furchtsamen Zug um den Mund, und sie schien sehr verunsichert über ihre eigene Anwesenheit an diesem Ort zu sein. Als sie ihren Platz am Brunnen einnahm, schauten die anderen ihr mürrisch entgegen. Besonders der alte Mann bedachte sie mit einem finsteren Blick, der fast schon hasserfüllt erschien.
George fand die Gruppe alles in allem recht sonderbar. Das Merkwürdigste war vielleicht, dass sie, obwohl sie alle durch einen heftigen Schneesturm gegangen waren, absolut trocken aussahen und nicht zu frieren schienen.
»Nun«, sagte der Mann in Orange. »Wir sind alle hier. Endlich«, fügte er hinzu und warf dem Mädchen einen bösen Blick zu. »Ich hätte mir gewünscht, wir alle wären ein bisschen pünktlicher, aber es ist nicht an mir, dieses Treffen zu leiten, also übergebe ich das Wort.«
»Ja«, sagte der alte Mann. »An mich, glaube ich. Es ist meine Zusammenkunft und mein Gut, und ich werde entscheiden, wann sie beginnt und wann sie endet. Oder hat jemand Einwände?«
»Das ist dein Werk?«, fragte die Frau in dem Matrosenmantel und deutete zum Himmel. »Das war eine große Unannehmlichkeit für jeden von uns. Oder zumindest für mich. Es ist lästig genug, dass ich meine Arbeit im Stich lassen muss, um an diesem Treffen teilzuhaben, auch ohne derartige Umstände.«
»Ja, das ist mein Werk«, bestätigte der alte Mann. »Darüber wird zu berichten und zu diskutieren sein. Dann gibt es also keine Einwände? Keine sinnvollen Einwände, meine ich?«
»Nein«, sagte der Mann in Orange. »Offensichtlich gibt es keine Einwände. Lasst uns anfangen, damit wir alle wieder zu dem zurückkehren können, womit wir beschäftigt sind.«
»Hervorragend«, nickte der alte Mann und zeigte auf den Schnee am Himmel. »Wie ihr seht, habe ich damit angefangen, Wasser von den fernen Küsten des Nordens zu fördern. Ich habe es zwischen gewaltigen Eisschollen geschöpft. Ich habe es umsichtig auf glitzernden Eisfeldern gesammelt. Ich habe es gejagt und zu gefrorenen Wolken am Himmel gefasst. Und diese habe ich gen Süden getrieben, habe sie durch Gebirgspässe geschleust und sie in schweren Druck gehüllt, wenn das Land flach wurde, sodass meine Beute in prachtvoller weißer Gischt über dem Lande anschwellen konnte. Es ist ein bewunderungswürdiger Sturm, ein wahrer Blizzard. Der Schnee fällt ein wenig sonderbar, muss ich sagen – der Sturm hat zu dieser Stadt gedrängt, als hätte er einen eigenen Willen. Aber das ist nicht von Bedeutung. Er wird das Land umfangen, wird all die Häuser und Felder in seinen Falten fangen und sich um sie alle zuziehen. Dächer werden unter der Last frischen Schnees ächzen. Am Morgen werden die, die hier leben, erwachen, und
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