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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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hinausstampfte.
    George konnte sich wirklich nicht vorstellen, was seine Mutter an diesem Mann begehrenswert gefunden hatte.
    Und wann immer Silenus unter ihnen wütete, folgte ihm Stanley auf dem Fuße, pflegte die verletzten Egos und wetzte die Scharten wieder aus. Stanley lächelte, dachte nach und schrieb eine Handvoll Wörter nieder, die allem irgendwie einen Sinn verliehen. Nach Silenus’ Ausbruch gegenüber Kingsley tröstete Stanley ihn mit: HABE PELZMÄNTEL IN EINEM SCHRANK IM OBERGESCHOSS GEFUNDEN. WÜRDE DAS HELFEN? Und Kingsley stimmte zu.
    Stanley schien eine endlose Quelle des Trostes für die ganze Gruppe zu sein. Er hatte eine stille Gelassenheit an sich, die irgendwie ansteckend war. George oder die anderen Angehörigen der Truppe setzten sich manchmal einfach zu ihm, ohne ein Wort zu sagen. Es war angenehm, bei ihm zu sein und die Sekunden verrinnen zu lassen. Und im Gegensatz zu all den anderen forderte er nie etwas von George: Während Kingsley, Silenus und Colette stets Anweisungen erteilten, wenn sie ihn zu Gesicht bekamen, bedachte Stanley ihn lediglich mit einem zaghaften Grinsen.
    Er und George teilten auch eine ganz ähnliche Bewunderung für die Musik. Georges einziger friedvoller Moment an diesem ersten Tag ereignete sich, als er Gelegenheit bekam, Stanley zu lauschen, während der Cello übte und mit flinken Fingern flüssig durch die Tonleitern und Arpeggios fegte. Er widmete jedem einzelnen Ton, jedem Strich des Bogens eine unglaubliche Hingabe, und seine langen, zarten Finger fanden sicher ihren Weg über die Seiten und entlockten ihnen die reinsten Klänge.
    »Was war das?«, fragte George, als Stanley ein Stück beendete.
    Stanley zeigte ihm die Noten.
    »Claudio Merulo«, las George. »Von dem habe ich noch nie gehört. Werden Sie das heute Abend spielen?«
    Stanley schüttelte den Kopf und schrieb auf seine Tafel: SPIELE IMMER NUR EIN STÜCK.
    »Ja«, sagte George enttäuscht. Vaudevillekünstler änderten ihre Nummern nur selten. Viele brachten jahrelang immer die gleiche Nummer. Wenn eine Vorstellung ankam, kam sie an, und es war undenkbar, im Angesicht des Erfolgs irgendetwas zu verändern.
    Stanley schien Verständnis für George zu haben, und er freute sich über den Bewunderer. Er nahm seine Tafel und schrieb einen anerkennenden Kommentar für seinen Zuhörer, und als er die Beine übereinanderschlug, um die Tafel zu stützen, sah George, dass seine Füße nackt und die Sohlen schwarz verkohlt waren, genau wie die von Silenus. Als Stanley die Tafel hochhielt (SCHÖN, WENN SICH JEMAND DIE ZEIT NIMMT, ZUZUHÖREN), fiel ihm auf, wo George hinstarrte. Hastig stellte er den Fuß wieder auf den Boden. Er wischte die Tafel ab und schrieb: STIMMT ETWAS NICHT?
    George schluckte. »Nein«, sagte er. »Schätze, es ist alles in Ordnung.«
    Ihre erste Vorstellung am Abend verlief ohne Zwischenfälle, und George ließ sich zum dritten Mal von dem Lied im vierten Akt gefangen nehmen. Dieses Mal überfiel ihn die Erinnerung an den hohlen Hügel nicht mit solcher Gewalt wie beim letzten Mal, dennoch fühlte er, wie sie sich unerbittlich in seinem Geist erhob, bis er beinahe die feuchte Erde riechen und das graue Licht an seinem Hals spüren konnte. Es war, als würde die betäubende Wirkung des Liedes nachlassen, je häufiger man es hörte, was erklärte, warum die Truppe selbst nicht bei jedem Auftritt gebannt war.
    Als sie fertig waren, packten sie zusammen und eilten zurück zum Hotel, während die Zuschauer noch überwältigt auf ihren Plätzen saßen, jeder einzelne erleuchtet von den seltsamen Lichtern und Farben, die den Choral zu kennzeichnen schienen.
    »Was passiert mit ihnen?«, fragte George.
    »Das hast du doch schon das letzte Mal erlebt, nicht wahr?«, entgegnete Silenus. »Was ist da mit den Leuten geschehen?«
    »Sie … sind aufgestanden und rausgegangen. Aber sie wirkten verändert. Sie wirkten …« George bemühte sich sehr, das Wort zu meiden, das ihm durch den Kopf ging, da es ihm so banal und nichtssagend erschien, doch ihm fiel nichts anderes ein. »Glücklich«, beendete er den Satz.
    Silenus nickte. »Genau.«
    »Also machen Sie Menschen glücklich?«
    »Warum nicht?«, fragte Silenus. »Wir sind Unterhaltungskünstler, nicht wahr?«
    Die weiteren Vorstellungen verliefen ereignislos. George war bald so versiert in den Nummern der Truppe, dass Colette Silenus schließlich fragte, ob sie sein Pianospiel nicht zu einer ständigen Einrichtung machen könnten, da es

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