Silenus: Thriller (German Edition)
eine vollkommen veränderte Welt vorfinden. Die Erde selbst wird sich ihnen verschlossen haben. Kein Laub, keine Blumen. Kein scheußlicher Wirrwarr aus Wurzeln oder Ranken.« Bei diesen Worten bedachte er die junge Frau mit einem überaus garstigen Blick. Sie schien es nicht einmal zu merken; sie starrte einfach nur verloren die Steinplatte unter ihren Füßen an.
»Aber das ist noch nicht alles, was ich tun werde. Wenn der Sturm sich erst erschöpft hat, werde ich meine kältesten, reinsten, eisigsten Luftströme versammeln. Es sind verspielte, neugierige Dinger, entzückende kleine Kreaturen. Ich werde sie auf dieses Land setzen und ihnen gestatten, durch die Städte zu hüpfen, sich zwischen kahlen, gebrechlichen Bäumen hindurchzuschlängeln oder über zugefrorene Flüsse zu tanzen. Sie werden Risse in Häusern und Mänteln und damit Wege in das Innere finden, wo sie Bein, Nase und Ohr kühlen werden. So lange sind sie hoch oben durch den Norden gewandert, meine lieben, kleinen Brisen. Wie schön es für sie sein wird, sich eine Weile auszustrecken! Und wenn sie über diese Berge rieseln und springen, so wird der hiesige Schnee nicht schmelzen. Nein, unter ihren winzigen, unsichtbaren Füßen wird er fester und fester werden, wird den Schlamm im Boden einfrieren, das Grundwasser und die mächtigsten Flüsse. In gewisser Weise ist der Sturm dort oben nichts anderes als ein dicker, weißer Teppich, ausgerollt für meine liebsten Tierchen.«
»Dir mögen sie lieb sein«, sagte die Frau in Blau. »Anderen nicht. In meinen Augen sind sie bösartige, abscheuliche Dinger, und ich kann ihren Anblick nicht ertragen.«
»Das ist deine Meinung«, entgegnete der alte Mann. »Die kannst du äußern, wenn du an der Reihe bist, aber so weit ist es noch nicht.«
Darauf trat Schweigen ein. Der alte Mann sah sich mit finsterer Miene unter den anderen um und nickte. »Nun«, sagte er, »das ist alles, was ich zu sagen habe. Dies ist der ganze Zweck meines Guts.«
Die anderen drei überdachten seine Worte.
»Es ist nicht sehr originell«, sagte der Mann in Orange.
»Was!«, schrie der alte Mann. »Es ist höchst originell!«
»Ich glaube, du hast deine Lieblinge auch im letzten Jahr losgelassen«, sagte die Frau in Blau. »Oder nicht?«
»Nun, ja! Aber dieses Mal haben sich meine Brisen an den eisigsten Strömungen gelabt, die wir uns vorstellen können! Dies wird ein Winter werden, wie diese Menschen ihn noch nie erlebt haben! Wenn sie alt und tattrig sind, werden sie ihren Kindeskindern von diesem Winter erzählen! Wie es sein sollte. Gibt es denn etwas Perfekteres als die weiße Masse von so viel Schnee?«
»Jeder hat seine Vorlieben«, beschwichtigte der Mann in Orange.
»Ja, aber manche sind rein und perfekt und andere langweilig«, gab der alte Mann zurück.
»Du und deine Stürme …«, sagte die Frau und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon früher von der sauberen Reinheit einer kalten, scharfen Brise gesprochen, die ich von den Meeren herbeiholen kann, aber das wirst du nie verstehen.«
»Nein«, befand der alte Mann. »Das ist kraftlos und langweilig. Es ist ein Kompromiss, ein Schatten wahrer Liebe. Es missfällt mir zutiefst.«
»Soll das heißen, Boreas«, sagte der Mann in Orange, »dass dieser Blizzard und die Freisetzung deiner Brisen dein Gut zur Gänze erschöpfen?«
Der alte Mann blinzelte, als er hörte, wie seine Pläne so knapp zusammengefasst wurden. »Nun … ja.«
»Du bist geblendet von deinem Gut«, sagte die Frau in Blau. »Wie sorgfältig ich alles arrangiert habe, bevor dein Gut zum Zuge kam … ich erinnere mich der Wolken, die ich über den Meeren des Ostens zusammengeschoben habe – kalte, schwere Kissen aus dicken Kristallen, und als sie sich verausgabten, nahm ich, was sie gegeben hatten, um schmale Streifen ihrer selbst hinauszuwirbeln, auf dass sie diese Länder abweiden. Blätter färbten sich golden und feurig rot an ihren Bäumen, und das schwächlichere Laub verdorrte. Und jeder bestaunte die Schönheit der Jahreszeit. Nun sind sie alle fort, begraben unter Fuß um Fuß dumpfen, farblosen Eises.
»Deine Werke waren absurd«, warf der alte Mann ein. »Sie waren schwach und zerbrechlich. Dieses Land brauchte einen schweren Windstoß, um all deine Narreteien fortzublasen.«
»Eurus’ Werke sind allein ihre Angelegenheit«, entschied der Mann in Orange, als die Frau den Mund zu einer Antwort aufklappte. »Dein Gut wird bald schwinden, Boreas, so wie das jedes anderen.
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