Silenus: Thriller (German Edition)
nun, da er es geschafft hatte, kam es ihm vor, als wären sie weiter voneinander entfernt als je zuvor.
14
BÜHNENZEIT
Allmählich gewöhnte sich George an das Leben auf Tour, soweit das überhaupt irgendjemandem möglich war. Und gleichzeitig wuchs die Enttäuschung über seine Rolle in der Truppe. Während der Zeit im Otterman’s hatte er sich daran gewöhnt, bewundert und respektiert zu werden, aber in Silenus’ Truppe brachte ihm niemand diese Wertschätzung entgegen. Wenn überhaupt, dann schien es eher, als würde jedes einzelne Mitglied der Truppe ihn als persönlichen Assistenten sehen, und sein Enthusiasmus wurde nur honoriert, wenn er den anderen eine Tasse Kaffee oder Tee holte.
Er war noch nie zuvor mit einer Truppe gereist, aber er sehnte sich zutiefst danach, die anderen zu beeindrucken und über seinen niedrigen Status hinauszuwachsen. Seine erste Strategie bestand darin, im Zuge einer Probe ganz nebenbei berühmte und schwierige Stücke zu spielen. Hatten sie erst gehört, was er konnte, so dachte er, würden sie gewiss anders über ihn denken. Also tat er während einer Probe, als würde er sich langweilen, und stürzte sich auf Mendelssohns erstes Klavierkonzert. Er hatte gerade erst richtig angefangen, als Harry angestiefelt kam. Statt aber George mit Bewunderung zu überhäufen, sagte er: »Willst du wohl mit dem verdammten Lärm aufhören? Hier gibt es Leute, die versuchen zu arbeiten!«
George nickte niedergeschlagen und packte seine Noten wieder in den Koffer.
Seine nächste Taktik, sich mehr Geltung zu verschaffen, bestand darin, zu jeder Nummer seine fachkundige Meinung abzugeben. Immerhin hatte er im Otterman’s viele Vorstellungen erlebt und mit den Künstlern stundenlang zusammengearbeitet; sie würden erkennen, wie sie ihre Nummern verbessern konnten, hatte er erst mit ihnen geredet, und sie würden seine Hilfe zu schätzen wissen. Doch schon der erste Versuch ging furchtbar daneben: Er hatte kaum die Hälfte der vielen Mängel in Kingsleys Nummer angesprochen, als der Mann auch schon einen hysterischen Wutausbruch bekam und sich in seiner Garderobe einschloss. Silenus und Colette brauchten eine ganze Stunde, um ihn wieder herauszulocken, und niemand war besonders zufrieden mit George.
Derlei Reaktionen verletzten George zutiefst, aber er kam bald zu dem Schluss, dass er die Sache falsch angefangen hatte; die Angehörigen der Truppe waren Schausteller, und wenn es etwas gab, dem Schausteller stets Gehör schenkten, dann war es das Publikum. Der Trick bestand also darin, die Bewunderung des Publikums zu erregen, dann musste die Bewunderung seitens der Truppe ganz von selbst folgen. Aber wie sollte er die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregen? Er war nur Begleitmusiker. Alles an seiner Position war dazu angetan, ihn in den Augen der Zuschauer unsichtbar zu machen.
George glaubte, das perfekte Mittel gefunden zu haben, als ihm der leuchtend gelbe spanische Mantel einfiel, den er während seiner Zeit bei Otterman’s gekauft hatte. Bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, ihn zu tragen, aber er war überzeugt, das er exakt das war, was er brauchte, um die Blicke des Publikums zu dem jungen Mann im Orchestergraben zu locken, der so vorzüglich Piano spielte. Am Abend ihres ersten Auftritts in Grand Rapids zog er ihn an und stieg hinab zu den Garderoben, um sich zu den anderen zu gesellen, ehe sie ihre Plätze einnehmen mussten.
»Schlechte Neuigkeiten, Leute«, sagte Colette, als sie den Raum betrat. »Zwei Nummern vor uns gibt es eine verdammte Hundenummer, also werden wir die Augen aufhalten und darauf achten müssen, dass wir nicht in …« Sie verstummte, als sie George sah. »Wow. Äh. Harry?«
»Ja?«, fragte Silenus, der in den Zuschauerraum hinausschaute.
»Wir haben hier ein Problem.«
»Was für ein Problem?« Er drehte sich um und erschrak ein wenig. »Heilige Scheiße! Was hast du denn da an?«
»Wieso?«, gab George mit gespielter Verwunderung zurück.
Kurz kehrte Ruhe ein, während sich alle umdrehten, um ihn zu mustern.
»Hast du deinen verdammten Verstand verloren?«, fragte Silenus. »Zieh das beschissene Ding aus!«
»Aber warum?«
»Du siehst ein bisschen wie ein Karnevalsfestwagen aus, mein Lieber«, belehrte ihn Franny.
George sah sich um. In sämtlichen Gesichtern stand ein Ausdruck, der entweder von Verwirrung oder regelrechtem Entsetzen kündete. »Schön«, murrte er und ging zurück nach oben.
Am nächsten Tag schenkte ihm Stanley einen
Weitere Kostenlose Bücher