Silenus: Thriller (German Edition)
erschöpft zurück, als hätten sie schlimme Strapazen überstehen müssen, aber was sie dort draußen taten, blieb allen verschlossen, sogar Colette. George wusste nicht einmal, wie die Weise vorgetragen wurde: Ganz gleich, wie genau er die vierte Nummer jedes Mal beobachtete, er sah nie mehr als Silenus, der dirigierte, und Stanley und Colette, die spielten und sangen. Und doch wurde auf irgendeine Art diese Erste Weise beschworen. Er war überzeugt, dass Silenus etwas damit zu tun hatte. Warum sollte er sonst überhaupt auf der Bühne sein? Er spielte kein Instrument, und er sang auch nicht.
Er wollte seinen Vater danach fragen, aber nie schien sich eine Gelegenheit ergeben zu wollen. Zwar ließ Silenus seinen Sohn inzwischen mehr an seinem Leben teilhaben, doch war er stets beschäftigt und distanziert, und George verstand ihn und das, was er tat, nicht besser als zuvor.
Zunächst schien alles eine gute Wendung zu nehmen, als Silenus’ Tür ihm immer häufiger erschien. »Ich habe deine Privilegien geändert«, teilte Silenus ihm mit, als er ihn danach fragte. »Sie wird sich dir öfter zeigen, und sie wird dich immer einlassen. Und sie wird im Falle eines Notfalls erscheinen.« Gewöhnlich fand George seinen Vater lesend im Büro vor. Seine Lektüre reichte von dicken Büchern, groß wie Grabsteine, über kleine, dünne Büchlein mit silbrigen Seiten, die zu singen schienen, wenn sie umgeblättert wurden, bis hin zu braunem Pergament, das alt und brüchig war. »Ich versuche, deinen Zustand zu verbessern«, erklärte ihm sein Vater, als George ihn einmal darauf ansprach.
»Meinen Zustand?«
»Ich will die Weise aus dir herausholen, und ich hoffe, etwas in diesen Schriften liefert uns einen nützlichen Hinweis.« Aber seine Miene war so düster und angespannt, dass George annehmen musste, dass seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren.
Einmal betrat er das Büro, als Silenus eine gewaltige Karte von Nordamerika musterte, und obgleich der größte Teil auf der Karte gut erkennbar war, schien sich der Kontinent an manchen Stellen auszubeulen oder auf Länder auszudehnen, die George nicht kannte. Da gab es an der Grenze zu Kentucky ein kleines Land, das als »Quelle des Kummers« beschrieben wurde. Gleich mehrere Waldgebiete im südlichen Ontario bildeten »Das Tal der Tränen« und eine große Halbinsel vor Nova Scotia war als »Nova Atlantis« gekennzeichnet. George fragte, ob es diese Orte wirklich gab, und Silenus antwortete, es gäbe sie, vorausgesetzt, man nähere sich auf die richtige Weise.
Doch bald schon verdrängte das Geschäft diese neue Vertrautheit aus ihrem Umgang miteinander. Mitte Februar ließen sie die Randzonen des Keith-Albee-Circuits hinter sich und unterschrieben beim Loews-Circuit, womit sie ganz offiziell dem unbedeutenderen Tingeltangel angehörten. George nahm an, der Wechsel diente dazu, neue Gebiete für die Weise zu erschließen. Zu Beginn hatte Silenus bei den Vertragsverhandlungen mit Schwierigkeiten zu kämpfen, da die üblichen Vereinbarungen die Künstler verpflichteten, über mehrere Monate nach den Vorgaben des Buchungsbüros aufzutreten, doch dessen Planung war eine zu große Einschränkung für die Truppe. Sein Vater sah sich gezwungen, zum Telegrafenamt zu gehen und eine Botschaft nach der anderen mit dem Buchungsbüro auszutauschen, bis er die Spielorte, Spielzeiten und Honorare erhielt, die er anstrebte. Manchmal dauerte solch ein Austausch fünf oder sechs Stunden, doch er hielt unnachgiebig stand. George bekam keines der Telegramme zu lesen, aber er hatte den Eindruck, dass Silenus ein mächtig gewiefter Geschäftsmann war.
Manchmal begleitete er Silenus zum Telegrafenamt, in der Hoffnung, ihn mit seinen Theorien über Mendelssohn oder Brahms beeindrucken oder sich mit ihm über ihre Familie unterhalten zu können. Aber Silenus war an derlei Gesprächen nicht interessiert. Stattdessen schimpfte er auf das Buchungsbüro und Albee und die Theaterdirektoren und die endlosen Probleme, mit denen man es unterwegs zu tun bekam. Er unterbrach seine Schmähreden nur, um einen frischen Schluck Brandy oder Bourbon zu nehmen, ehe er weitergiftete, und die Tiraden endeten regelmäßig in einem bitteren Rat, den George gar nicht hören wollte: »Das Leben ist eine schwierige, hässliche Angelegenheit, Junge, und ich würde es keinem meiner Freunde empfehlen.«
Jedes Mal konnte George nur leise seufzen. Er hatte so hart darum gekämpft, bei seinem Vater zu sein, und
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