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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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abzusuchen (und die waren immer da, gleich, welchen Geschlechts man war) und sie mit Schuhwichse zu stopfen. Danach folgten die Rituale: Man achtete darauf, nicht aus dem Fenster zu schauen, denn sollte man einen Vogel auf dem Sims sehen, so brachte der zweifellos Pech. Fand man eine von einer Tänzerin verlorene Pfauenfeder, durfte man sie keinesfalls berühren; eine Pfauenfeder zu berühren, beschwor das schlimmste aller Unglücke herauf. Man achtete streng darauf, niemals zu pfeifen, denn das kam dem Läuten einer Totenglocke so nahe wie nichts anderes. Man musste seine ältesten Bühnenschuhe anziehen, sein Hemd auf links ziehen und dabei seine Zeilen murmeln und vielleicht noch zwei-, dreimal gegen den Uhrzeigersinn im Kreis herumschlurfen. Danach war man geweiht, gesegnet, geschützt vor allem Übel. Es sei denn natürlich, man trat nach einer Tiernummer auf; kein Glück auf Erden konnte einem im Wettstreit mit dumpfen, dressierten Kreaturen beistehen, denen es stets gelang, die Herzen der Zuschauer zu gewinnen, während sie ihren Kot überall auf der Bühne hinterließen.
    Dann kam der große Moment, dieses winzige Bruchstück an Zeit, auf das man schon seit dem morgendlichen Erwachen gewartet hatte: Man wurde namentlich aufgerufen, atmete noch einmal tief durch und schritt über den mit steifer Pappe ausgelegten Boden (übersät mit den Löchern, die zuvor benötigte Kulissen zurückgelassen hatten), und die finstere Rückseite des Theaters erinnerte mit all den glänzenden, wachsamen Augen an eine Höhle voller ruhender Eulen, und dann sang man oder man blökte ein kleines Liedchen oder man hielt eine kurze Ansprache oder führte einen lustigen kleinen Tanz auf. Und das war einfach, denn schließlich hatte man das Gleiche schon am Tag zuvor getan und am Tag davor und an Dutzenden und Hunderten anderen Tagen. Hatte man, so fragte man sich, während man dem Applaus (mal ein Tröpfeln, mal ein Brausen) lauschte, das schon immer getan? Hatte man schon immer vor diesen im Dunkeln verborgenen Leuten gespielt, die im grellen Schein des Rampenlichts körperlos und unsichtbar erschienen?
    Und dann, nach dem Auftritt, kehrte man zurück in sein kahles Hotelzimmer, in dessen Bettdecken und Laken es nur so wimmelte vor Krabbeltieren, die durch die Falten streiften auf der Suche nach einem Stück nackten Fleisches, das sie beißen konnten. Man schlief vor Kälte zitternd und zu einem Ball zusammengerollt und erwachte mit roten und rosafarbenen Perforierungen, die sich über den Hals, den Schritt und die Achselhöhlen zogen. Aber man wollte nicht mit Kerosin gegen sie angehen, wie manche Leute rieten, denn die Dämpfe drohten, einen in der Nacht zu ersticken, also erduldete man die winzigen Bisse. Und wenn es Morgen wurde, dann saß man steif und schmerzgeplagt auf der Bettkante, der Atem bildete kleine Wolken, und man fürchtete sich davor, die kalten Dielen mit den Fußsohlen zu berühren … und noch ehe man sich dazu durchrang, fragte man sich, welcher Tag war. Es konnte doch nicht immer noch Februar sein? Oder doch? War es nicht schon viele, viele Monate lang Winter?
    Irgendwann einmal fragte George Silenus nach der Zeit. Nun, da er auf Reisen war, schien sie ihm so langsam zu vergehen.
    »Wir reisen durch die dünnen Teile der Welt, George, die ausgehöhlten Teile«, antwortete der. »Wir sehen die Ränder, die Grenzen, die schwärenden, offenen Wunden. Hier bricht die Existenz selbst zusammen. Die Zeit funktioniert anders. Sie ist verzerrt. Darum kommen wir hierher und tragen die Weise vor. Dann werden sich die Dinge an diesen Orten allmählich wieder bessern.«
    »Aber es ist schon so lange Winter«, wandte George ein. »Es fühlt sich an, als würde der Winter schon Jahre dauern. Wie kann es da sein, dass die Menschen, die hier leben, nicht merken, dass etwas nicht stimmt?«
    Silenus sagte abfällig: »Für die ist alles prima. Ihnen fällt nicht auf, dass die Welt unter ihren Füßen stirbt.«
    »Aber warum nicht?«
    »Weil sie es nicht merken wollen. Die menschliche Begabung zur Selbsttäuschung ist unermesslich, Junge. Wäre sie das nicht, wären wir arbeitslos.«
    George kam sich vor, als bräche er gemeinsam mit der Welt zusammen. Sein Rücken fing an, sich zu krümmen, seine Haut wurde dünner und fahler, und seine Knöchel krachten nach jedem Auftritt. Als Colette ihn einmal hinter der Bühne in einem Haufen staubiger Vorhänge schlafend vorfand, weckte sie ihn mit einem Klaps und murmelte: »Ich habe es

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