Silo: Roman (German Edition)
Hirn produzierte die wahnwitzigsten Vorstellungen.
Vielleicht war sie schon tot, und die vielen Geister dort draußen hatten sie in
Empfang genommen. Vielleicht war sie in der Luftschleuse ihres eigenen Silos
bei lebendigem Leibe verbrannt, und das hier waren ihre irren Träume, ihre
Flucht vor den Schmerzen. Sie würde vielleicht selbst als Geist nun für immer
in diesem Raum spuken.
Sie taumelte weiter
durch die menschlichen Überreste auf die innere Tür zu, presste den Kopf gegen
das dicke Bullauge und hielt nach Peter Billings Ausschau, der auf der anderen
Seite an seinem Schreibtisch sitzen würde. Oder vielleicht nach Holston, der
durch den Flur wanderte, ein Geist, der auf der Suche nach dem Geist seiner
Frau war.
Aber das hier war
nicht die Luftschleuse des Silos, in dem sie aufgewachsen war. Sie versuchte,
sich zu beruhigen. Sie fragte sich, ob ihr die Luft ausging, ob sie vielleicht
schon ihre eigene ausgeatmete Luft einatmete und darüber den Verstand verlor.
Sie hatte Angst, dass ihr Gehirn langsam erstickte.
Die Tür war
abgedichtet. Sie war echt. Tausende waren tot, aber sie nicht. Noch nicht.
Sie versuchte, an
dem großen Rad zu drehen, mit dem die Tür verschlossen war, aber es war
entweder festgerostet oder von innen verschlossen. Juliette schlug an die
Scheibe und hoffte, der Sheriff des Silos werde sie hören oder vielleicht
jemand in der Kantine. Drinnen war es dunkel, aber sie war sich sicher, dass
jemand dort sein müsse. Menschen lebten in Silos. Sie lagen nicht tot in
großen Haufen davor .
Keine Reaktion. Kein
Licht ging an. Sie lehnte sich an das große Rad und rief sich Marnes’
Instruktionen ins Gedächtnis, wie die Mechanik der Schleuse funktionierte. Aber
das war alles schon so lange her, und damals hatte sie es nicht für so wichtig
gehalten. Nur an eines erinnerte sie sich: Nachdem der Raum mit Argon geflutet
und mit dem Feuer gereinigt worden war – da ging die innere Tür doch wieder
auf, oder? Automatisch? Damit die Luftschleuse geputzt werden konnte? Sie
meinte sich erinnern zu können, dass Marnes so etwas gesagt hatte. Er hatte
noch Witze gemacht, dass man nicht abschließen müsse, weil sowieso niemand
wieder reinkommen könne, nachdem das Feuer seine Arbeit getan hatte. Erinnerte
sie sich wirklich daran, oder dachte sie sich diese Dinge gerade aus? War es
das Wunschdenken ihres mit Sauerstoff unterversorgten Gehirns?
So oder so, das Rad
an der Tür ließ sich nicht drehen. Juliette versuchte es mit ihrem ganzen
Körpergewicht, die Tür schien jedoch verschlossen zu sein. Sie trat einen
Schritt zurück. Die Bank an der Wand, wo die Verurteilten ihren Anzug angepasst
bekamen, wirkte einladend. Sie war müde von dem Marsch und von den
Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, überhaupt in diese Schleuse
hineinzukommen. Was wollte sie eigentlich hier? Unentschlossen drehte sie sich
um sich selbst.
Sie brauchte Luft.
Aus irgendeinem Grund hoffte sie, dass es im Silo welche geben würde. Sie
betrachtete die verstreuten Knochen um sich herum. Wie viele mochten es sein?
Sie lagen viel zu sehr durcheinander, als dass sie die Zahl der Toten hätte
schätzen können. Die Schädel, dachte sie. Sie könnte die Schädel zählen, dann
wüsste sie, wie viele es waren. Dann schlug sie sich diesen Unsinn aus dem
Kopf. Sie wurde definitiv verrückt.
»Das Rad an der Tür
ist nur eine festsitzende Mutter«, sagte eine Stimme in ihr, die schwächer
wurde, während sie sprach. »Eine festsitzende Schraube.«
Und hatte Juliette
nicht schon als junger Schatten den Ruf gehabt, dass sie wirklich jede Schraube
lösen konnte?
Öl, Wärme, Hebel.
Das waren die Zutaten, um ein festsitzendes Metallteil zu lockern. Sie hatte
nichts davon bei sich, sie sah sich um und entdeckte lediglich die Bank, die
mit zwei Ketten an der Wand befestigt war. Juliette ging hinüber und rüttelte
daran, wusste aber nicht, wie sie die Bank hätte lösen sollen oder was sie ihr
überhaupt genützt hätte.
In der Ecke kam ein
Rohr aus dem Boden, das zu einer Reihe von Lüftungsschlitzen führte. Auf diesem
Weg musste das Argon zugeführt werden, dachte sie. Sie schlang die Arme um das
Rohr, stemmte die Füße gegen die Wand und zog.
Die Verbindung zu
den Lüftungsschlitzen wackelte – die giftige Luft hatte sie korrodiert und
gelockert. Juliette biss die Zähne zusammen und zerrte wild daran.
Das Rohr löste sich
aus der Öffnung und bog sich nach unten durch. Und Juliette war plötzlich
aufgeregt, wie eine
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