Silo: Roman (German Edition)
Fetzen um ihre Stiefel und über die Skelette wie den
Riementang, den sie auf den Fischfarmen im unteren Silobereich gesehen hatte.
Sie konnte nicht um alle einzeln herumgehen und stieg deshalb über sie hinweg,
immer näher an den Sensorenturm heran. Die Zahl der Leichen ging mindestens in
die Hunderte, womöglich Tausende.
Dies waren nicht die
Leute aus ihrem Silo, ging ihr auf. Das war zwar offensichtlich, aber trotzdem
verblüffend. Andere Leute. Dass sie tot waren, änderte nichts daran,
dass die Erkenntnis ihr den Atem raubte: dass so nah an ihrem Silo noch weitere
Menschen gelebt hatten. Juliette hatte eine unbewohnbare, leere Fläche
überquert und war von einem Universum zu einem anderen gelangt. Möglicherweise
war sie die erste Person überhaupt, der das gelungen war, und nun stand sie
hier, vor einem ganzen Friedhof fremder Seelen, die einst in einer Welt gelebt
hatten, die ihrer offenbar sehr nah und sehr ähnlich gewesen war.
Sie suchte sich
einen Weg zwischen den Leichen hindurch. An manchen Stellen lagen die Körper
übereinander, sie musste sich vorsichtig einen Weg bahnen. Kurz vor der Rampe,
die zu diesem anderen Silo hinunterführte, musste sie sogar auf eine
oder zwei Leichen treten, um überhaupt weiterzukommen. Es sah aus, als hätten
die Menschen fliehen wollen und seien übereinandergestolpert. Als Juliette die
Rampe erreichte, entdeckte sie unzählige Leichen vor der Stahltür zur Luftschleuse
und stellte fest, dass die Bewohner des Silos nicht geflohen waren, sondern
versucht hatten, wieder hinein zugelangen.
Ihr eigener Tod
stand unmittelbar bevor – dessen war sie sich mit jeder Faser ihres Körpers
bewusst. Sie würde bald zwischen diesen Leichen liegen, und seltsamerweise
machte ihr das nicht einmal Angst. Die Angst hatte sie auf dem Gipfel des
Hügels überwunden. Jetzt war sie in einem neuen Land und sah neue Dinge, ein
grausames Geschenk, für das sie dankbar sein musste. Es war die Neugier, die
sie vorantrieb.
Juliette watete im
Tod. Sie trat zwischen kaputten und hohlen Körpern hindurch, schob Knochen und
andere Überreste beiseite und kämpfte sich zu der teilweise gesprungenen Tür
durch. Zwischen den eisernen Zähnen der Schleuse klemmte eine Gestalt, ein Arm
drinnen, einer draußen, ein stummer Schrei in einem verwitterten Gesicht mit
leer glotzenden Augenhöhlen.
Juliette war eine
von ihnen, eine von den anderen. Sie war tot, oder jedenfalls fast. Aber
während die Toten bereits in der Bewegung erstarrt waren, ging sie noch weiter.
Sie zog an der Leiche in der Tür, hörte dabei das Geräusch ihres eigenen Atems.
Ihr fiel auf, dass ihr Helm von der Atemluft innen zu beschlagen begann. Sie
zog die Hälfte der Leiche heraus, die andere Hälfte fiel nach drinnen. Eine
Wolke aus pulverisiertem Fleisch sank zwischen den Türen zu Boden.
Sie wand einen Arm
durch den Spalt und versuchte, sich seitwärts in die Luftschleuse zu zwängen.
Ihre Schulter schlüpfte problemlos hindurch, dann ihr Bein, aber ihr Helm blieb
hängen. Einen Moment lang bekam sie Panik, sie spürte die Stahlzähne um ihren
Kopf, der Helm schien plötzlich kein Gewicht mehr zu haben und sie selbst halb
in der Luft zu hängen. Sie brachte ihren Arm ganz hindurch und versuchte, um
die Tür herumzugreifen, einen Halt zu finden, aber ihr Oberkörper steckte fest.
Ein Bein war drinnen, eines draußen. Sie war gefangen, ihr Atem wurde schneller
und verbrauchte die restliche Luft.
Juliette versuchte,
den anderen Arm auch noch hineinzubekommen. In der Taille konnte sie sich nicht
drehen, aber sie konnte den Ellbogen anwinkeln und die Finger in den schmalen
Spalt zwischen ihrem Bauch und der Tür stecken. Sie schlang die Finger um die
Stahlkante und zog. Juliette wollte plötzlich nicht mehr sterben, nicht hier. Sie
ballte die Hand zur Faust, die Finger um diese Stahlzähne geschlungen, ihre
Knöchel schmerzten vor Anstrengung. Sie riss mit dem Kopf am Helm, versuchte,
mit dem Gesicht gegen den verdammten Monitor zu schlagen, sie wand sich und
schob und zog – und kam plötzlich frei.
Sie stolperte in die
Luftschleuse, ein Stiefel blieb noch kurz an der Tür hängen, sie ruderte mit
den Armen in der Luft, und dann trat sie in einen Haufen verbrannter Knochen
und wirbelte eine schwarze Staubwolke auf – die Überreste derjenigen, die im
Feuer der Luftschleuse gefangen worden waren. Juliette befand sich in einem
verbrannten Raum, der dem erschreckend ähnelte, aus dem sie gerade gekommen
war. Ihr erschöpftes
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