Silo: Roman (German Edition)
Boden und krümmte sich vor Schmerz. Shirly schrie ihren Mann
an, fragte, was sie tun sollten.
Marck stellte seinen
Rucksack ab und küsste sie auf die Wange. Mit dem Gewehr lief er die Treppen
hinauf. Er versuchte, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, aber seine Beine
schmerzten zu sehr. Sein Körper war unglaublich schwer und langsam, er kam sich
vor wie in einem schlechten Traum. Mit erhobenem Gewehr näherte er sich dem
Treppenabsatz des hundertneununddreißigsten Stocks, doch die Angreifer, die die
Leute unter Beschuss nahmen, waren weiter oben.
Er prüfte, ob sein
Gewehr geladen war, spannte den Hahn und schob sich auf den Treppenabsatz. Ein
paar Männer in den grauen Anzügen der Security beugten sich von oben übers
Geländer und zielten auf das Erdgeschoss der Mechanik. Einer der Männer stieß
seinen Nachbarn an und deutete auf Marck, der die Szene entlang seines
Gewehrlaufs beobachtete.
Er feuerte – von
oben fiel ein schwarzes Gewehr auf ihn herab, die Arme des Schützen sanken aufs
Geländer, bevor sie zurücksackten und aus der Sicht verschwanden.
Schüsse fielen, aber
Marck hatte sich bereits geduckt und unter die Treppe zurückgezogen. Das
Geschrei über und unter ihm wurde lauter. Er ging auf die andere Seite der
Treppe, weg von der Stelle, wo er zuletzt gesehen worden war, und blickte hinunter.
Der Andrang vor der Sicherheitsschranke wurde langsam schwächer. Mehr und mehr
Leute wurden hindurchgezogen. Er sah, dass Shirly hinaufblickte und ihre Augen
gegen das Treppenhauslicht abschirmte.
Hinter ihm knallten
Stiefel. Marck lud durch, drehte sich um und zielte auf die höchste Stufe, die
er auf der Wendeltreppe noch erkennen konnte. Er wartete auf den, der da kommen
würde.
Als der erste
Stiefel in Sicht kam, straffte er sich, wartete, bis er noch mehr von dem Mann
vor den Lauf bekam, dann drückte er ab.
Ein weiteres Gewehr
krachte auf die Stufen, ein weiterer Mann ging in die Knie.
Marck drehte sich um
und rannte. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand, er spürte, wie es beim Fallen an
sein Schienbein prallte. Er blieb nicht stehen, um es aufzuheben. Er kam aus
dem Tritt, stürzte ein Stück die Treppe hinab und stand sofort wieder auf. Er
wollte zwei Stufen auf einmal nehmen, aber er rannte wie in Trance, nicht
schnell genug, seine Beine waren wie rostiger Stahl …
Hinter ihm ein
Knall, ein gedämpfter Schrei – jemand hatte ihn eingeholt, stieß ihm mit einem
Gewehrlauf in den Rücken.
Marck fiel nach
vorn, sein Kinn schrammte über die Stahlstufen. Blut lief ihm in den Mund. Er
versuchte zu krabbeln, kam wieder auf die Beine, taumelte weiter.
Wieder ein Schrei,
wieder ein Schlag in den Rücken, ihm war, als würde man ihn gleichzeitig beißen
und treten.
So ist es, wenn man
erschossen wird, dachte er dumpf. Er stürzte die letzten paar Stufen hinunter,
verlor das Gefühl in den Beinen, prallte gegen die Stahlwand.
Das Erdgeschoss war
fast leer. Eine Person stand neben dem kleinen Loch, eine weitere lag halb
innen, halb außen und strampelte mit den Beinen. Marck sah, dass es Shirly war,
die auf dem Bauch lag und sich zu ihm umdrehte. Beide lagen sie da, es war so
bequem auf dem Boden, der Stahl lag kühl an seiner Wange. Er musste keine
Stufen mehr hinunterrennen, kein Gewehr mehr laden, auf niemanden mehr
schießen.
Shirly schrie, sie
war anscheinend nicht so zufrieden wie er, dass sie hier liegen konnten.
Ein Arm streckte
sich aus dem kleinen schwarzen Rechteck nach ihm aus. Shirly wurde auf die
anderen Seite gezogen, gestoßen von dem freundlichen Menschen in Blau, der an
dieser merkwürdigen Stahlwand stand, wo einmal der Eingang zu seiner Heimat
gewesen war.
»Geh!«, sagte Marck
zu ihr und wünschte sich, sie würde nicht so schreien. Ein feiner Blutfilm
glitt auf den Boden vor ihm, als er sprach. »Ich liebe dich …«
Wie auf Kommando
glitten ihre Beine in die Dunkelheit, ihre Schreie wurden von diesem
rechteckigen, düsteren Schlund geschluckt.
Der nette Mann in
Blau drehte sich um, er riss die Augen und den Mund auf, dann zuckte sein
Körper unter der Gewalt des Kugelhagels.
Das war das Letzte,
was Marck sah, den Todestanz dieses Mannes. Und ganz vage, nur für einen Augenblick,
spürte er, dass sein Ende nah war.
55. KAPITEL
Silo 18. Drei Wochen später
Walker
blieb in seiner Koje liegen und lauschte den Geräuschen in der Ferne. Rufe
hallten vom Eingang der Mechanik herüber. Danach ertönte das vertraute Knattern
der Gewehre – das Poppoppoppop der Guten,
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