Silo: Roman (German Edition)
knochigen Handgelenken führten, wo schwache, dünne
Adern wie blau isolierte Kabel verliefen.
Ein Schnitt – und
schon wäre er bei Scottie, bei Juliette.
Es war eine
Versuchung.
56. KAPITEL
Silo
17
Als
Juliette das Drahtseil eindrehen wollte, stach ihr ein Stück Kupfer in den
Finger wie der Stachel eines wütenden Insekts.
Sie fluchte, wischte
sich das herausquellende Blut an ihrem grauen Overall ab und befestigte das
Seil dann endlich am Geländer. Sie begriff noch immer nicht, wie es sich
überhaupt hatten lösen können, aber hier in diesem verfluchten Silo schien
alles vor die Hunde zu gehen. Ihr Verstand mit eingeschlossen.
Sie beugte sich weit
über den Handlauf und legte die Hand auf das Durcheinander aus Rohren und
Leitungen, die an der Betonwand des Treppenhauses montiert waren. Mit ihren von
der Kälte im unteren Silo eisigen Händen versuchte sie zu spüren, ob Wasser
durch die Plastikrohre floss und Schwingungen erzeugte.
»Hast du was?«, rief
sie zu Solo hinunter. Sie meinte, ein ganz leichtes Zittern im Rohr zu spüren.
»Ja, ich glaube,
schon!«
Juliette runzelte
die Stirn und blickte den schwach beleuchteten Schacht hinunter. Sie würde
selbst nachsehen müssen.
Sie ließ ihre kleine
Werkzeugtasche auf der Treppe liegen – es bestand keine Gefahr, dass jemand
kommen und darüberstolpern würde. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und kam rasch
in die Tiefen des Silos. Die Stromleitungen und die lange Schlange der Rohre
kamen bei jeder Umdrehung wieder in Sicht. Tropfen von dunkelrotem Klebstoff
hingen an jeder Muffe, die sie mühsam aufgeschnitten und von Hand wieder
verklebt hatte.
Neben ihr verliefen
andere Kabel, Stromleitungen, die sich den weiten Weg von der IT herunterschlängelten, um die Wachstumslampen der
unteren landwirtschaftlichen Anlagen zu versorgen. Juliette fragte sich, wer
das Ganze wohl installiert hatte. Solo war es nicht gewesen. Diese Leitungen
mussten in der Zeit unmittelbar nach dem Verfall von Silo 17 gelegt worden
sein. Solo war nur der glückliche Nutznießer der harten Arbeit anderer gewesen.
Die Pflanzenlampen richteten sich nach der Zeitschaltuhr, und durch den schalen
Gestank von Öl und Benzin, von Überschwemmung und stehender Luft konnte man
schon mehrere Stockwerke entfernt den würzigen Geruch der wuchernden Pflanzen
wahrnehmen.
Juliette blieb auf
dem Treppenabsatz des hundertsechsunddreißigsten Stockwerks stehen, der letzten
trockenen Etage. Solo hatte sie warnen wollen, er hatte es ihr zu erklären
versucht, als sie zusammen vor dem wandgroßen Schaubild standen und Juliette
von den riesigen Bohrern träumte. Verdammt, sie hätte es sich denken können,
hätte von der Überflutung wissen sollen, auch ohne dass man es ihr sagte.
Schließlich war auch in den alten Silo ständig Wasser eingesickert, das war
eben das Risiko, wenn man unterhalb des Pegels lebte. Wenn die Pumpen nicht
arbeiteten, stieg das Grundwasser eben an.
Auf dem
Treppenabsatz beugte sie sich über das Stahlgeländer und hielt die Luft an.
Solo stand auf der einzigen Stufe, über die sie das Wasser bisher hatten
zurückdrängen können. Fast drei Wochen hatten sie an den Strom- und
Wasserleitungen gearbeitet, hatten einen größeren Bereich der unteren
Hydrokulturgärten in Betrieb genommen, hatten eine Pumpe entdeckt und das
Hochwasser in die Tanks der Wasseraufbereitungsanlage geleitet – und sie hatten
nur eine einzige Stufe freigelegt!
Solo drehte sich
lächelnd zu ihr um. »Es funktioniert, oder?« Er kratzte sich am Kopf, sein
struppiges Haar stand nach allen Seiten ab. Seine hoffnungsfrohe Frage hing als
Atemwolke in der kalten Luft hier unten in der Tiefe.
»Es funktioniert,
aber nicht gut genug.« Sie blickte am Geländer hinunter auf den bunten,
wässrigen Schlamm. Die Oberfläche war spiegelglatt, schillerte aber unter einem
dichten Öl- und Benzinfilm. Die Notlampen des Treppenhauses reflektierten
gespenstisch grün auf dem Wasser und ließen die Tiefen so unheimlich aussehen
wie den restlichen leeren Silo.
In der Stille hörte
Juliette ein leises Plätschern in dem Rohr neben ihr. Sie meinte, das ferne
Brummen der überfluteten Pumpe zwei, drei Meter unter der Öl- und Benzinschicht
zu hören.
Solo hustete rau.
»Und wenn wir noch eine Pumpe dazuschalten …?«
Juliette hob die
Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen und sich auf ihre Berechnungen
konzentrieren zu können.
Das Volumen der drei
Stockwerke des Maschinenraums war schwer zu schätzen, es gab so
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