Silo: Roman (German Edition)
Bescheid wusste,
dass es zu schrecklich gewesen war und er hatte weghören müssen.
Er streckte die Hand
aus und berührte das Dach von Silo 17. Er kam sich vor wie ein Gott, der von
ganz oben über die Gebäude wachte, er stellte sich vor, seine Hand würde die
dunklen Wolken über Juliette verscheuchen und ein Dach für Tausende Menschen
aufspannen. Er rieb mit dem Finger über das rote X, mit dem der Silo
durchgestrichen war. Die Striche fühlten sich wächsern an, als hätte man sie
mit Kreide oder etwas Ähnlichem gezogen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es
wäre, wenn er eines Tages die Nachricht erhielt, dass ein ganzes Volk zugrunde
gegangen, ausgelöscht war. Er würde dann selbst in Bernards Schreibtisch – in seinem Schreibtisch – den roten Stift suchen und eine weitere Chance auf die Verwirklichung
ihrer Hoffnungen streichen müssen.
Er blickte an die
Deckenlampen, die noch immer nicht rot blinkten. Warum rief Juliette nicht an?
Aus dem Funkgerät
krachten Schüsse. Lukas ging zum Regal, wo das kleine Gerät montiert war, und
lauschte den gebrüllten Befehlen, den sterbenden Menschen. Kalter Schweiß stand
ihm auf der Stirn. Er wusste, wie es sich anfühlte, den Abzug zu drücken, ein
Leben zu beenden. Er spürte, wie ihm die Brust eng und die Knie weich wurden.
Mit feuchten Händen hielt er sich am Regal fest und sah den Sender an, der
hinter dem verschlossenen Gitter hing. Wie sehr er sich danach sehnte, diese
Männer anzufunken, ihnen zu sagen, dass sie es lassen sollten, dass sie
aufhören sollten mit dem Wahnsinn, der Gewalt, dem sinnlosen Töten. Sie alle
könnten mit einem roten X ausgekreuzt werden – das sollten sie fürchten,
nicht einander.
Er strich über das
Gitter, hinter dem die Kontrolleinheit des Funkgeräts weggesperrt war. Er
wusste, es wäre dumm, die Wahrheit an alle und jeden hinauszusenden. Es wäre
naiv, es würde nichts ändern.
Er besah sich eine
der Wählscheiben, der Pfeil deutete auf die 18. In einem schwindelerregenden
Kreis standen hier fünfzig Nummern, eine für jeden Silo. Lukas zog sehnsüchtig
an dem Gitter. Er hätte gern etwas anderes gehört als immer nur das
Kampfgeschrei. Was ging in diesen anderen Welten vor sich? Harmlose Dinge
wahrscheinlich. Scherze und Geplauder. Klatsch und Tratsch. Er stellte sich
vor, wie aufregend es wäre, sich in eines dieser Gespräche einzuschalten und
mit den Menschen zu sprechen, die von nichts einen Schimmer hatten. »Ich bin
Lukas aus Silo 18«, würde er sagen. Und die Leute würden wissen wollen, warum
sein Silo überhaupt eine Nummer hatte. Und Lukas würde ihnen sagen, dass sie
nett zueinander sein sollten, dass es nur noch wenige Menschen gab und alle
Bücher und alle Sterne im All sinnlos wären, wenn niemand sie lesen und niemand
sie hinter den aufreißenden Wolken entdecken könne.
Er ging an seinem
Schreibtisch vorbei und sah in den Blechschubern nach, ob es etwas
Interessanteres für ihn gab. Er war unruhig, lief auf und ab wie ein Schwein im
Verschlag. Er hätte einen Dauerlauf um die Server herum machen sollen, aber
dann würde er duschen müssen, und das Duschen wurde allmählich zu einer
lästigen Pflicht.
Am hinteren Ende des
Regals hockte er sich hin und ging die losen Papierstapel durch. Hier hatten
sich die handschriftlichen Notizen und die Zusätze angesammelt, die über die
Jahre zusätzlich zum Vermächtnis geschrieben worden waren. Hinweise für künftige
Siloführer, Handbücher, Memoranden, Mementos. Er zog das Handbuch für den
Kontrollraum der Generatorenhalle heraus, das Juliette verfasst hatte. Vor
Wochen hatte er gesehen, wie Bernard die Unterlagen beiseitegelegt und gemeint
hatte, es werde sich womöglich als nützlich erweisen, sollten die Probleme ganz
unten im Silo sich noch verschlimmern.
Und das Gebrüll aus
dem Funkgerät ließ befürchten, dass ihnen genau das nun bevorstand.
Lukas ging zum
Schreibtisch und verstellte die Lampe so, dass er das Manuskript lesen konnte.
An manchen Tagen fürchtete er Juliettes Anruf, fürchtete, dass Bernard ihn
erwischen oder selbst rangehen könnte oder dass sie Dinge von ihm verlangte,
die er nicht tun wollte, nie wieder tun würde. Aber jetzt, da die Deckenlampen
gleichmäßig weiß leuchteten und nichts summte, war alles, was er wollte, ein
Anruf. Er sehnte sich nach ihrer Stimme. Er wusste, dass alles, was sie dort
drüben tat, gefährlich war, dass immer etwas passieren konnte. Sie wohnte unter
einem roten X, an einem toten Ort.
Die
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