Silo: Roman (German Edition)
Seiten des
Handbuchs waren voller Notizen, die Juliette mit spitzem Bleistift geschrieben
hatte. Als er darüberstrich, spürte er die Vertiefungen. Der Inhalt war ihm
allerdings unverständlich. Einstellungen der Ventile, Stromdiagramme. Während
er durch die Seiten blätterte, fand er, dass dieses Handbuch, als Projekt,
seiner Sternenkarte nicht unähnlich war, verfasst in einem Geist, der dem
seinen nah war. Diese Erkenntnis machte die Entfernung zwischen ihnen nur noch
schlimmer. Warum konnten sie nicht zurück? Zurück bis vor die Reinigung, vor
die vielen Toten. Sie würde jeden Abend ihren Feierabend machen und dann mit
ihm zusammen in die Dunkelheit hinausblicken, sie würden nachdenken,
Beobachtungen notieren, plaudern und warten.
Er drehte das Handbuch
um und las auf der Rückseite der handbeschriebenen Seiten ein paar gedruckte
Zeilen des Theaterstücks. An den Rändern waren Notizen in einer anderen
Handschrift verfasst. Juliettes Mutter, dachte Lukas, oder vielleicht eine der
Schauspielerinnen. Auf manchen Seiten waren Schaubilder mit kleinen Pfeilen,
die eine Bewegung anzeigten. Also die Notizen der Schauspielerin, beschloss er.
Bühnenanweisungen. Das Theaterstück musste ein Andenken für Juliette sein,
deren Name im Titel stand.
Er überflog die Zeilen,
suchte etwas Romantisches, das seine schlechte Stimmung heben könnte. Als der
Text vor seinen Augen vorbeiflog, blieb sein Blick an einer vertrauten Schrift
hängen – nicht die der Schauspielerin. Er blätterte zurück und besah sich die
Seiten noch einmal genauer.
Es war eindeutig
Juliettes Handschrift. Er hielt das Textbuch ins Licht, damit er die
verblassten Buchstaben lesen konnte.
George,
da liegst du. So friedlich. Auf deiner Stirn
keine Falte, auch nicht um deiner Augen Stern.
Eine Berührung, wenn’s der andere nicht sah,
die Suche nach einer Spur, nur ich weiß, was dir
geschah.
Warte auf mich, warte, Liebster, warte
dort,
lass dieses leise Flehen finden deiner
Ohren Hort,
und begrab es mit dir, auf dass der
gestohlene Kuss
wachsen kann auf der stillen Liebe, von
der keiner je wusst’.
Ihm
war, als würde ein Eiszapfen seine Brust durchbohren. Seine Sehnsucht wich
brennender Wut. Wer war dieser George? Eine Jugendliebe? Juliette hatte nie
eine genehmigte Beziehung gehabt, er hatte das Register sofort überprüft,
nachdem sie sich kennengelernt hatten. War sie vielleicht verliebt gewesen? In
irgendeinen Mechaniker, der seinerseits in ein anderes Mädchen verliebt gewesen
war? Das wäre für Lukas das Schlimmste gewesen – ein Mann, nach dem sie sich so
sehnte, wie sie sich nach ihm nie verzehren würde. Hatte sie deshalb als
Sheriff eine Arbeit so weit weg von ihrem Heimatstockwerk angenommen? Um diesen
George nicht mehr sehen zu müssen? War sie vor ihren Gefühlen geflüchtet, vor
einer verbotenen Liebe?
Er nahm vor Bernards
Computer Platz. Er bewegte die Maus und loggte sich in die Server der Büros in
den oberen Etagen ein. Seine Wangen glühten von diesem neuen Gefühl, von dem er
wusste, dass es Eifersucht hieß, dessen Wucht ihm aber unbekannt gewesen war.
Er rief die Personalakten auf und suchte in den unteren Stockwerken nach einem
George. Er erhielt vier Treffer. Er kopierte die Ausweisnummern in eine
Textdatei und diese wiederum in die ID-Karteien. Die Bilder der Männer öffneten
sich, er ging die Einträge durch. Er hatte ein leicht schlechtes Gewissen, weil
er seine Macht missbrauchte, er war beunruhigt über seine Entdeckung, zumindest
aber nicht mehr so sehr gelangweilt, er hatte nun endlich etwas zu tun.
Nur ein einziger
George arbeitete in der Mechanik. Ein älterer Mann. Als das Funkgerät hinter
Lukas knisterte, überlegte er, was aus dem Mann wohl werden würde, wenn er
jetzt noch dort unten war. Möglicherweise lebte er schon nicht mehr,
möglicherweise hinkten die Einträge der aktuellen Entwicklung ein paar Wochen
hinterher.
Die Treffer zwei und
drei verwiesen auf deutlich zu junge Silobewohner. Der eine war noch nicht
einmal ein Jahr alt, der andere der Schatten eines Trägers. Blieb also noch ein
letzter George, ein zweiunddreißig Jahre alter Mann. Er war Händler, sein Beruf
war unter »Sonstiges« aufgelistet, er war verheiratet und hatte zwei Kinder.
Lukas besah sich das unscharfe Bild auf der Kennkarte. Schnauzbart, lichtes
Haar, schiefes Lächeln. Seine Augen lagen zu weit auseinander, seine Brauen
waren zu dunkel und zu buschig, fand Lukas.
Er nahm das Handbuch
und las das Gedicht
Weitere Kostenlose Bücher