Silo: Roman (German Edition)
gut …«
Natürlich nicht.
Warum hätten ihm Zahlen etwas sagen sollen, die er noch nie in seinem Leben
gesehen hatte?
»Solo zeigt es
euch«, sagte sie. »Wir sind schon öfter dort gewesen. Da gibt es gutes Essen.
Sogar Konserven. Solo?« Sie wartete, bis er sie ansah, und der glasige Ausdruck
in seinen Augen langsam verschwand. »Ich muss bis zur IT. Ich muss mit meinen Leuten sprechen, okay? Mit meinen
Freunden. Ich muss wissen, ob es ihnen gut geht.«
Er nickte.
»Ihr kriegt das doch
hin?« Sie ließ sie nicht gern allein, hatte aber keine Wahl. »Ich versuche,
morgen wieder bei euch zu sein. Lasst euch Zeit mit dem Aufstieg, okay? Geht
einfach ganz gemütlich nach Hause.«
Nach Hause . Hatte sie sich wirklich
schon damit abgefunden?
Die Kinder nickten.
Juliette wandte sich um und nahm zwei Stufen auf einmal, obwohl ihre Beine
eindeutig dagegen protestierten.
* * *
Juliette
war in den Vierzigern, als ihr aufging, dass sie es womöglich nicht schaffen
würde. Sie fror unter dem Schweiß, der an ihr herunterlief, ihre Beine waren
taub vor Schmerz und Erschöpfung. Ihre Arme übernahmen einen Teil der Arbeit,
sie griff mit beiden Händen an das Geländer und zog sich die nächsten zwei
Stufen hinauf.
Ihr Atem kam seit
ein paar Stockwerken nur noch stoßweise. Sie fragte sich, ob ihre Lunge unter
Wasser irgendwie Schaden genommen hatte. War das möglich? Ihr Vater hätte das
sicherlich gewusst. Sie dachte darüber nach, dass sie den Rest ihres Lebens
ohne Arzt verbringen und so gelbe Zähne wie Solo bekommen würde. Und sie würde
sich um einen Säugling kümmern und dafür sorgen müssen, dass es nicht noch mehr
wurden, zumindest nicht, bis die Kinder älter waren.
Sie stand auf dem
nächsten Treppenabsatz und berührte noch einmal die Stelle an ihrer Hüfte, wo
unter der Haut das Implantat zur Geburtenkontrolle zu spüren war. Diese
Maßnahme ergab im Zusammenhang mit der Situation hier im Silo nun deutlich mehr
Sinn. So vieles aus ihrem alten Leben ergab plötzlich Sinn. Dinge, die ihr
verquer vorgekommen waren, hatten jetzt eine eigene Logik. Die Kosten für das
Kabeln einer Nachricht, der Abstand zwischen den Stockwerken, diese stets
überfüllte Treppe, die als einzige Verbindung zwischen den Stockwerken
funktionierte, die Einteilung des Silos in drei Teile, das Misstrauen zwischen den
verschiedenen Bewohnergruppen … das war alles mit Absicht so eingerichtet
worden. Sie hatte schon vorher ein gewisses System in der Planung des Silos
gesehen, aber nicht verstanden, was genau dahintersteckte. Jetzt verriet ihr
dieser leere Silo, was sie noch wissen musste, diese verwahrlosten Kinder, die
man nicht einfach sich selbst überlassen konnte.
Als sie endlich in
den Dreißigern ankam, wurden die Schmerzen zwar nicht besser, aber es war
zumindest ein Ende in Sicht. Sie drückte nicht mehr ganz so verzweifelt an dem
Funkgerät herum. Sie hoffte, dass ihre neue Idee funktionieren würde, dass es
eine Möglichkeit gab, aus Solos Zimmer heraus mit sämtlichen anderen Silos zu
kommunizieren. Die Möglichkeit hatte die ganze Zeit über bestanden und ihr und Solo
geradezu ins Gesicht geschrien. Denn warum sollte ein Funkgerät, das ohnehin
hinter zwei verschlossenen Türen installiert worden war, noch einmal extra
weggeschlossen werden? Das ergab nur dann Sinn, wenn es extrem gefährlich war.
Wenn man damit jede Verbindung herstellen konnte, die man sich wünschte.
Mit fast gefühllosen
Beinen kam sie auf dem fünfunddreißigsten Stockwerk an. So viel hatte sie ihrem
Körper noch nie abverlangt, nicht einmal, als sie nach der Reinigung draußen
über den Hügel gelaufen war. Sie trieb sich nur noch über ihre Willenskraft
voran, hob einen Fuß, setzte ihn ab, streckte das Bein, zog sich mit den Armen
hinauf und warf sich dann mit dem ganzen Körper nach vorn, um am Geländer noch
etwas höher zu greifen. Im Licht der grünen Notbeleuchtung hatte sie jedes
Zeitgefühl verloren, sie wusste nicht, ob es schon Nacht war oder wann es
Morgen werden würde. Sie vermisste ihre Uhr. Sie hatte jetzt nur noch das
Messer. Sie lachte über den Tausch – früher hatte sie die Sekunden ihres Lebens
gezählt, jetzt kämpfte sie um jede einzelne.
Vierunddreißig. Am
liebsten wäre sie einfach auf dem Stahlgitter zusammengebrochen, hätte sich
zusammengerollt und geschlafen wie in ihrer ersten Nacht hier im Silo, dankbar,
dass sie überhaupt noch lebte. Aber sie zog die Tür auf, staunte darüber, wie
schwer sie war, und
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