Silo: Roman (German Edition)
Berufung angesehen hatte – abseits der anderen zu leben
und dem großen Ganzen zu dienen –, fühlte sich plötzlich an wie ein Fluch. Ihr
Leben war ihr aus der Hand genommen worden. All die Jahre, die sie geopfert
hatte, waren in den Silo eingesickert, und schon vierzig Stockwerke tiefer
wusste man kaum noch davon, schien ihre Bemühungen nicht einmal zu schätzen.
Der traurigste Teil
dieser Reise war das Verständnis, das sie für Holston entwickelt hatte. Jetzt
konnte sie es zugeben: Ein wichtiger Grund für ihre Reise, vielleicht sogar der
Grund dafür, dass sie Juliette auf den Posten des Sheriffs zu setzen
versuchte, war, dass sie nach ganz unten gewollt hatte, so weit wie möglich weg
von der traurigen Aussicht auf zwei Liebende, die sich am Fuß eines Hügels
aneinander schmiegten, während der Wind langsam an ihren Körpern fraß. Jahns
war losgezogen, um Holston zu entfliehen, und stattdessen hatte sie ihn
gefunden. Sie hatte vielleicht das Rätsel nicht gelöst, warum die Leute, die
hinausgeschickt wurden, die Linsen auch tatsächlich reinigten, aber sie
verstand, warum es Menschen gab, die sich meldeten und die Arbeit freiwillig
übernahmen. Lieber selbst zum Geist werden, als von seinen Geistern verfolgt zu
werden.
Die Tür zum Büro des
Polizisten quietschte in einer Angel, die mit allem Öl des Silos nicht mehr zu
reparieren gewesen wäre. Jahns versuchte sich aufzusetzen, in der Dunkelheit
etwas zu erkennen, aber ihr taten sämtliche Muskeln weh, und ihre Augen waren
zu alt.
Schritte kamen auf
sie zu, fast unhörbar auf dem alten Teppich. Kein Wort wurde gesprochen, nur
alte Gelenke knirschten, als sie sich dem Bett näherten, dann wurde die teure,
duftende Bettwäsche angehoben. Jahns hielt die Luft an. Ihre Hand tastete nach
der Hand, die ihre Decke anhob. Sie rutschte auf dem schmalen Bettsofa zur
Seite, um Platz zu machen, und zog ihn neben sich.
Marnes schlang die
Arme um ihren Rücken und unter sie, bis sie an seiner Seite lag, ein Bein auf
seinen Beinen, ihre Hände an seinem Hals. Sie spürte seinen Schnurrbart an der
Wange, hörte seine Lippen sich öffnen, als er ihre suchte.
Jahns hielt sein
Gesicht fest und vergrub ihres an seiner Schulter. Sie weinte wie ein Kind, wie
ein junger Schatten, der sich verloren und verängstigt fühlte in der Fremde
eines neuen und Furcht einflößenden Jobs. Sie weinte vor Angst, aber das war
bald vorbei. Es ging vorbei wie die Schmerzen in ihrem Rücken, als seine Hände
sie streichelten. Es ging vorbei und wurde durch eine seltsame Taubheit ersetzt
und dann, nach langem Schluchzen, durch Empfindsamkeit.
Jahns fühlte sich
lebendig. Sie spürte das Kribbeln der Berührung ihrer Haut, spürte ihren
Unterarm auf seinen Rippen, ihre Hand an seiner Schulter, seine Hand auf ihrer
Hüfte. Und dann waren es Tränen der Freude und Erleichterung, der Trauer über
die verlorene Zeit und ein bisschen Traurigkeit darüber, dass der so lange
herbeigesehnte Moment nun gekommen war und mit beiden Armen fest umschlungen
wurde.
So schlief sie ein,
erschöpft von mehr als nur dem Treppensteigen, und doch nach nichts weiter als
ein paar zitternden Küssen, verschränkten Händen, geflüsterten zärtlichen
Worten. Der Schlaf übermannte sie, die Erschöpfung gab dem Schlummer nach, den
sie nicht wollte, aber dringend brauchte. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten
schlief sie in den Armen eines Mannes. Und als sie aufwachte, war das Bett wie
immer leer, aber ihr Herz selten voll.
* * *
Am
Mittag des vierten und letzten Tags ihres Aufstiegs erreichten sie die
Dreißiger. Jahns merkte, dass sie immer öfter Pause machte, um etwas zu
trinken, nicht wirklich aus Erschöpfung, sondern weil es ihr widerstrebte, in
der IT anzukommen und Bernard zu begegnen.
Die dunklen Schatten
der Stromsperre folgten ihnen die Treppe hinauf, der Verkehr war spärlich, die
meisten Händler hatten ihre Stände für die stromlose Zeit geschlossen.
Juliette, die zurückgeblieben war, um die Reparaturarbeiten zu beaufsichtigen,
hatte Jahns vor dem flackernden Licht der Notstromversorgung gewarnt. Und
tatsächlich hatte das Dämmerlicht bei dem langen Aufstieg an ihren Nerven
gezerrt. Das ständige Flackern hatte sie an eine defekte Glühbirne erinnert,
die sie den größten Teil ihrer ersten Amtszeit hindurch ertragen hatte. Zwei
Techniker aus der Elektroabteilung waren in ihr Büro gekommen und hatten die
Birne begutachtet. Beide fanden sie noch zu gut, um sie zu ersetzen. Sie hatte
sich an
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