Silo: Roman (German Edition)
sich daran vorbei,
einen mühsamen Schritt nach dem anderen.
Marnes ging neben
ihr, seine Hand am inneren Geländer, ihre auf dem äußeren, der Spazierstock
klackerte zwischen ihnen auf den Stufen. Manchmal berührten sich ihre Arme. Es
fühlte sich an, als wären sie monatelang unterwegs gewesen, weg von ihren
Büros, ihren Pflichten, ihrer kühlen Vertrautheit. Der Ausflug nach ganz unten
war anders verlaufen, als Jahns es sich vorgestellt hatte. Sie hatte gedacht,
sie könne wieder jung werden, stattdessen hatten die Geister der Vergangenheit
sie heimgesucht. Sie hatte auf neue Stärke gehofft und spürte nun die Jahre in
Knien und Rücken. Was als große Tour durch den Silo begonnen hatte, war zu
einem Marsch in trauriger Anonymität geworden, und inzwischen fragte sie sich,
ob sie als Bürgermeisterin überhaupt noch gebraucht wurde.
Ihre Welt war in
Schichten angeordnet. Das sah sie klarer denn je. Oben war man damit
beschäftigt, den sich trübenden Blick durch die Linsen im Auge zu behalten, und
man nahm den frisch gepressten Saft zum Frühstück als etwas ganz
Selbstverständliches hin. Die Leute weiter unten, die in den Gärten arbeiteten
oder in der Viehzucht, lebten in einer eigenen Welt aus Erde, Grünzeug und
Dünger. Und ganz unten, wo die Werkstätten und Chemielabors waren, wo die
Ölpumpen und riesigen Maschinen donnerten, dort lag die Welt der ewig schwarzen
Fingernägel und des herben Moschusgeruchs körperlicher Arbeit. Für die Menschen
dort unten war die Außenwelt nur ein Gerücht, und das Essen, das bis zu ihnen
vordrang, diente allein der Erhaltung ihrer Arbeitskraft. Der Sinn des Silos
war, dass die Leute den Maschinen dienten, und nicht, wie Jahns ihr ganzes
Leben lang geglaubt hatte, umgekehrt.
Der
siebenundfünfzigste Stock tauchte im Dämmerlicht auf. Auf dem Stahlgitter saß
ein junges Mädchen mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen,
und hielt ein Kinderbuch in das schwache Licht der Notbeleuchtung. Jahns
beobachtete das Mädchen, das vollkommen regungslos saß. Nur die Augen wanderten
über die farbenfrohen Seiten. Das Mädchen sah nicht einmal auf, um zu sehen,
wer da über den Absatz vor ihrer Wohnung ging. Sie ließen sie hinter sich, das
Mädchen verschwand langsam wieder in der Dunkelheit, während Jahns und Marnes
sich aufwärtskämpften, vollkommen erschöpft vom dritten Tag des Aufstiegs. Über
und unter ihnen waren keine anderen Schritte zu hören oder zu spüren, der Silo
war still und leblos. Es war ein gespenstischer Raum, in dem zwei alte Freunde
Seite an Seite über die farbverklecksten Stufen gingen, mit schwingenden Armen,
die sich dann und wann, ganz selten, berührten.
* * *
In
dieser Nacht kamen sie auf der Polizeistation in einem der mittleren Stockwerke
unter. Der zuständige Beamte bestand darauf, dass sie seine Gastfreundschaft
annahmen, und Jahns war darauf bedacht, um Unterstützung für den nächsten
Sheriff zu werben, der von außerhalb der Polizei kommen würde. Nach einem
kalten Abendessen in fast absoluter Dunkelheit und mit genügend belanglosem
Small Talk, um ihren Gastgeber und seine Frau zufriedenzustellen, zog Jahns
sich in das Büro zurück, wo ein Schlafsofa hergerichtet worden war. Die bessere
Bettwäsche roch nach Seife für zwei Wertmarken. Marnes sollte in der Koje in
der Arrestzelle schlafen, wo es immer noch nach einem Betrunkenen roch, der
nach der letzten Reinigung über die Stränge geschlagen hatte.
Man merkte kaum,
dass die Lichter ausgingen, so dunkel war es. Jahns ruhte auf der Bettstatt,
die Muskeln pulsierten und zuckten in ihrem still daliegenden Körper, ihre Füße
waren verkrampft, ihr Rücken war angespannt und sehnte sich danach, gestreckt
zu werden. Auch in ihrem Kopf bewegte es sich weiter. Ihre Gedanken wanderten
zurück zu den Gesprächen, mit denen sie den Tag verbracht hatten.
Sie und Marnes
schienen umeinanderzukreisen, sie probierten aus, ob die alte Anziehungskraft
noch da war, testeten die Empfindlichkeit der alten Narben, suchten nach den
weichen Stellen an ihren faltigen Körpern und in ihren von Gesetz und Politik
abgestumpften Herzen.
Immer wieder tauchte
Donalds Name zwischen ihnen auf, wie ein Kind, das sich ins Erwachsenenbett
schlich und die ermatteten Liebhaber auseinanderzurücken zwang. Jahns trauerte
an diesem Tag noch einmal um ihren lang verstorbenen Mann. Und zum ersten Mal
in ihrem Leben trauerte sie um die darauffolgenden Jahrzehnte der Einsamkeit.
Was sie immer als ihre
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