Silo: Roman (German Edition)
ihm die Hand und
spürte eine große Leere, einen Krampf in den Eingeweiden wegen allem, was er
geopfert hatte, sie empfand eine tiefe Schuld, in der sie leben würde, egal,
was als Nächstes passierte.
Sie erreichten die
Säuglingsstation. Eigentlich hatten sie nicht geplant, dort haltzumachen, etwa
um Juliettes Vater noch einmal zu besuchen und ihn zu überreden, seine Tochter
auf dem Weg nach oben zu empfangen. Aber nun überlegte Jahns es sich anders.
»Ich muss mal,
dringend«, sagte sie zu Marnes, peinlich berührt, weil sie es nicht mehr halten
konnte. Ihr Mund war trocken, und ihr Magen brannte von der ganzen Flüssigkeit
und vielleicht auch vor Angst, nach Hause zu kommen. »Wäre außerdem nett,
Juliettes Vater zu sehen«, fügte sie hinzu.
Marnes’ Schnauzer
verzog sich bei dieser Ausrede nach oben. »Dann sollten wir wohl eine kleine
Pause machen«, sagte er.
Das Wartezimmer war
leer. Jahns schaute durch die gläserne Trennwand und sah im Dämmerlicht eine
Schwester auf sich zukommen. Aus ihrem Stirnrunzeln wurde ein Lächeln, als sie
die Bürgermeisterin erkannte.
»Mayor«, flüsterte
sie.
»Tut mir leid, dass
ich so unangekündigt hereinplatze, aber ich dachte, vielleicht hat Dr. Nichols
kurz Zeit? Und ob ich wohl Ihre Toilette benutzen könnte?«
»Selbstverständlich.«
Sie drückte auf den Summer und winkte sie durch. »Es sind zwei Kinder geboren
worden, seit Sie hier waren. Das war ganz schön schwierig mit dem kaputten
Generator.«
»Stromsperre«,
korrigierte Marnes mit einer rauen und etwas zu lauten Stimme.
Die Schwester sah
ihn strafend an, nickte aber. Sie nahm zwei Kittel vom Ständer, reichte sie
ihnen und bat sie, ihre Taschen bei ihr zu lassen.
Im Wartezimmer
deutete sie auf die Bänke und sagte, sie werde den Doktor holen. »Die Toiletten
sind da hinten.« Sie zeigte auf eine Tür, deren Beschriftung fast ganz abgescheuert
war.
»Ich bin gleich
wieder zurück«, sagte Jahns zu Marnes. Sie bekämpfte den Wunsch, ihm noch
einmal die Hand zu drücken, so normal war diese heimliche Geste schon geworden.
In den
Toilettenräumen war fast gar kein Licht. Jahns fummelte an dem Türschloss
herum, fluchte leise, als ihr Bauch knurrende Geräusche von sich gab, dann riss
sie die Tür schließlich auf und setzte sich schnell hin. Ihr Bauch fühlte sich
an, als habe er Feuer gefangen. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit. Sie blieb
sitzen, weil ihre Beine zitterten, und sie merkte, dass sie sich auf dem Weg
nach oben zu viel zugemutet hatte. Bei dem Gedanken, dass sie noch zwölf
Stockwerke vor sich hatte, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie war fertig und
ging zum Waschbecken, um sich mit ein bisschen Wasser frisch zu machen, dann
trocknete sie sich ab. Sie musste sich im Dunkeln vorantasten, da sie die
Räumlichkeiten nicht kannte. Zu Hause oder in ihrem Büro hätte sie sich blind
zurechtgefunden.
Auf schwachen Beinen
stolperte sie zurück und überlegte, ob sie die Nacht hier auf der
Säuglingsstation verbringen und in einem Kreißsaalbett schlafen sollte, um dann
erst am nächsten Morgen in ihr Büro hinaufzusteigen. Sie spürte ihre Beine kaum
noch, als sie die Tür aufmachte und zu Marnes ins Wartezimmer zurückkehrte.
»Besser?«, fragte
er. Er saß auf einer der Familienbänke, neben ihm war noch Platz. Jahns nickte
und ließ sich fallen. Sie atmete flach und überlegte, ob er sie für schwach
halten würde, wenn sie zugab, dass sie an diesem Tag nicht mehr weiterkonnte.
»Jahns? Alles okay?«
Marnes beugte sich
vor. Er sah sie nicht an, er sah auf den Boden. »Jahns. Was ist da drinnen
passiert?«
»Nicht so laut«,
sagte sie.
Aber er schrie.
»Doktor!«, brüllte er. »Schwester!«
Hinter der Scheibe
zur Säuglingsstation bewegte sich jemand. Jahns lehnte den Kopf an ein
Sitzkissen und versuchte, einen Satz zu bilden, ihm zu sagen, dass er nicht so
laut sein solle.
»Jahns, Schatz, was
hast du gemacht?«
Er hielt ihre Hand
und tätschelte sie. Er schüttelte ihren Arm. Jahns wollte nur noch schlafen.
Schritte waren zu hören, jemand kam auf sie zugerannt. Verboten helles Licht
ging an. Eine Schwester rief etwas. Sie hörte die vertraute Stimme von
Juliettes Vater, dem Arzt. Er würde ihr ein Bett geben. Er würde ihre Erschöpfung
verstehen.
Es war von Blut die
Rede. Jemand untersuchte ihre Beine. Marnes weinte, Tränen tropften ihm in den
weißen Bart mit den schwarzen Sprenkeln. Er schüttelte ihre Schultern und sah
ihr in die Augen.
»Alles in
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