Silo: Roman (German Edition)
während
Säuglinge an den Overalls ihrer Eltern zupften und Spielzeug oder Plastikbecher
fallen ließen.
Juliette bog
mehrmals ab, sie ging über die Flure bis zur anderen Seite des Geschosses.
Marnes’ Wohnung lag ganz hinten. Sie nahm an, dass der Deputy über die Jahre
schon öfter die Chance auf ein Upgrade bekommen, aber immer darauf verzichtet
hatte. Einmal hatte sie sich mit Jahns’ ehemaliger Sekretärin über Marnes
unterhalten, und Alice hatte ratlos mit den Schultern gezuckt. Marnes hatte
offenbar nie etwas anderes als den Posten als Deputy gewollt, er war zufrieden
damit gewesen, die zweite Geige zu spielen.
Im Foyer angekommen,
rannten zwei Kinder Hand in Hand an ihr vorbei, sie waren auf ihrem Schulweg
spät dran. Juliette überlegte, was sie zu Marnes sagen sollte, um ihr Kommen zu
rechtfertigen, ihre Sorge zu erklären. Vielleicht war dies ein guter Zeitpunkt,
um ihn nach der Akte zu fragen, ohne die er offensichtlich nicht mehr leben
konnte. Sie könnte ihm sagen, er solle sich den Tag freinehmen, die Büroarbeit
ihr überlassen, sich ein wenig erholen. Oder sie könnte flunkern und behaupten,
dass sie wegen eines anderen Falles zufällig hier unten vorbeigekommen sei.
Vor seiner Tür blieb
sie stehen und hob die Hand, um anzuklopfen. Hoffentlich würde er den Besuch
nicht als Machtdemonstration ihrerseits verstehen. Sie machte sich seinetwegen
einfach nur Sorgen. Das war alles.
Sie klopfte an die
Stahltür und wartete, dass sie hereingerufen würde. Vielleicht hatte er sie
auch schon hereingebeten, und sie hatte ihn bloß nicht gehört, weil seine
Stimme in den letzten Tagen zu einem undeutlichen, dünnen Krächzen verkommen
war. Wieder klopfte sie, dieses Mal lauter.
»Deputy? Alles okay
da drinnen?«
Eine Frau streckte
den Kopf aus einer Tür weiter vorn auf dem Flur. Juliette hatte das Gesicht
schon einmal gesehen, sie war sich ziemlich sicher, dass die Frau Gloria hieß,
sie hatte an den Abenden gelegentlich in der Kantine gesessen.
»Hallo, Sheriff!«
»Hi, Gloria. Hast du
Deputy Marnes heute Morgen schon gesehen?«
Gloria schüttelte
den Kopf, nahm einen Metallstab in den Mund und band ihr langes Haar zu einem
Knoten. »Nein«, nuschelte sie. Sie zuckte mit den Achseln und steckte den
Knoten mit dem Stab fest. »Gestern Abend bin ich ihm auf dem Treppenabsatz
begegnet, er sah ziemlich mitgenommen aus.« Sie runzelte die Stirn. »Ist er
nicht zur Arbeit erschienen?«
Juliette drehte sich
wieder zur Tür und drückte die Klinke. Das Schloss, hörbar gut gepflegt, schnappte
auf, Juliette stieß die Tür auf. »Deputy? Ich bin’s, Jules.«
Die Tür öffnete sich
in einen dunklen Raum, nur das Licht vom Flur fiel herein – aber das reichte
aus.
Juliette wandte sich
an Gloria: »Ruf Doktor Hicks … Nein, verdammt!« Sie dachte noch immer in den
Begriffen und Namen von ganz unten. »Wer ist hier der zuständige Arzt? Hol
sofort den zuständigen Arzt!«
Juliette wartete
keine Antwort ab, sie lief ins Zimmer. In der kleinen Wohnung war nicht viel
Raum, um sich zu erhängen, aber Marnes war es trotzdem gelungen. Der Gürtel um
seinen Hals schnitt tief ins Fleisch, die Schnalle war zwischen Badezimmertür
und -rahmen befestigt. Seine Füße lagen angewinkelt auf dem Bett, sodass sie
sein Gewicht nicht tragen konnten. Sein Hintern war neben die Füße gerutscht,
sein Gesicht war weiß.
Juliette umfasste
Marnes’ Taille und hob ihn hoch. Er war schwerer, als er aussah. Sie trat seine
Füße vom Bett, um ihn besser halten zu können. Ein Fluchen an der Tür – Glorias
Mann stürzte herein und half Juliette, Marnes’ Gewicht zu stützen. Beide
tasteten nach dem Gürtel, versuchten, ihn aus dem Türspalt zu ziehen. Juliette
gelang es schließlich, die Tür zu öffnen und ihn zu befreien.
»Aufs Bett!«,
keuchte sie.
Sie hoben Marnes
hoch und legten ihn flach hin.
Glorias Mann stützte
die Hände auf den Knien ab und schnappte nach Luft. »Gloria ist zu Doktor
O’Neil gerannt.«
Juliette nickte und
lockerte den Gürtel an Marnes’ Hals. Das Fleisch darunter war dunkelrot. Sie
tastete nach seinem Puls und erinnerte sich, dass George genauso ausgesehen
hatte, als sie ihn damals unten im Maschinenraum fand, reglos und ohne jede
Reaktion. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie bereits die
zweite Leiche in ihrem Leben vor sich hatte.
Und als sie sich
schwitzend zurücklehnte und auf den Arzt wartete, fragte sie sich, ob ihr neuer
Job und die Tatsache, dass sie den Posten
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