Silo: Roman (German Edition)
Zunge am
Verschluss lösen ließ.
Jahre später, sie
war schon sehr viel älter, hatte sie diese Lektion an einen jungen Schatten
namens Scottie weitergegeben. Er war damals noch fast ein Kind gewesen, aber
Juliette hatte ihn zusammengestaucht, wann immer er dieselben unbedachten
Fehler gemacht hatte wie früher sie. Einmal hatte sie den armen Jungen dermaßen
eingeschüchtert, dass er aschfahl geworden und noch monatelang in ihrem Beisein
nervös gewesen war. Vielleicht hatte sie ihm aus einem schlechten Gewissen
heraus während seiner weiteren Ausbildung dann mehr Aufmerksamkeit geschenkt,
und die beiden waren enge Freunde geworden. Er war schnell zu einem fähigen
jungen Mann herangewachsen, zu einem Crack in der Elektrotechnik. Er konnte
einen Chip für die Zeitschaltung einer Pumpe schneller programmieren, als
Juliette ihn hätte ausbauen und wieder einsetzen können.
Sie löste den
zweiten Kabelbinder und wusste, dass das Päckchen von Scottie war. Vor einigen
Jahren war er von der IT angeworben worden
und in die Dreißiger aufgestiegen. Er war für die Mechanik zu »clever«
geworden, wie Knox sich ausgedrückt hatte. Juliette legte die beiden
Plastikstreifen zur Seite und stellte sich vor, wie Scottie das Päckchen für
sie vorbereitet hatte. Die Anfrage, die sie am Abend zuvor in den Maschinenraum
geschickt hatte, musste zu ihm weitergeleitet worden sein, und er hatte
vermutlich die halbe Nacht wach gesessen, um ihr diesen Gefallen zu tun.
Sie löste vorsichtig
das Textilpapier – auch das würde sie zusammen mit den Kabelbindern zurückgehen
lassen. Beides war zu kostbar, als dass sie es hätte behalten wollen, und
leicht genug, um es einem billigen Träger mitzugeben. Als sie das Päckchen
geöffnet hatte, sah sie, dass Scottie die Ränder umgeschlagen und die Blätter
ineinandergefaltet hatte – diesen Trick lernten Kinder, die ihre Nachrichten
ohne teuren Klebstoff und ohne Klebeband in einem Umschlag verschicken wollten.
Sorgfältig klappte sie Scotties minutiöse Bastelei auf und öffnete auch die
innere Verpackung. Sie enthielt eine Plastikbox, wie man sie unten in der
Mechanik bei kleineren Arbeiten verwendete, um Schrauben und Muttern darin zu
sortieren.
Sie öffnete den
Deckel und sah, dass das Päckchen nicht ausschließlich von Scottie war – ein
Teil des Inhalts musste zusammen mit einer Kopie ihrer Anfrage zu ihm gebracht
worden sein. Tränen stiegen ihr in die Augen, als der Duft von Mama Jeans
Hafer- und Maismehlkeksen herausströmte. Sie nahm einen Keks, roch daran und
atmete tief ein. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, aber sie hätte
schwören können, dass die alte Box ein wenig nach Öl oder Schmierfett roch – der Geruch von zu Hause.
Juliette faltete das
Textilpapier sorgfältig zusammen und drapierte die Kekse darauf. Sie dachte an
die Menschen, mit denen sie diesen Schatz teilen würde. Natürlich mit Marnes,
aber auch mit Pam aus der Kantine, die so nett gewesen war, ihr beim Umzug in
die neue Wohnung zu helfen. Und mit Alice, Jahns’ ehemaliger Sekretärin – über
eine Woche lang hatte sie sich die Augen aus dem Kopf geweint. Juliette nahm
den letzten Keks heraus und entdeckte einen kleinen Memorystick, der unten in
der Box lag – ein weiterer Leckerbissen, den Scottie extra für sie unter den
Krümeln versteckt hatte.
Juliette nahm den
Stick heraus und zog die Plastikkappe ab. Sie blies auf den Stecker, um möglichen
Schmutz zu beseitigen, und schob ihn dann in den Rechner. Sie war nicht
besonders gut im Umgang mit Computern, wusste aber zumindest, wie sich die
Rechner benutzen ließen. Im Maschinenraum ging nichts, ohne dass man einen
Antrag oder eine Anfrage verschickte. Außerdem waren die Computer praktisch, um
sich in das Innenleben von Pumpen und Relais einzuloggen und die Maschinen per
Fernsteuerung an- oder abzuschalten.
Als das Lämpchen am
Memorystick zu blinken begann, klickte sie auf dem Bildschirm in den
entsprechenden Ordner. Sie fand eine Unzahl Dateien und Verzeichnisse, der
kleine Stick schien randvoll zu worden sein. Sie fragte sich, ob Scottie in der
vergangenen Nacht überhaupt Schlaf bekommen hatte.
Ganz oben auf der
Liste im Hauptordner stand eine Datei mit dem Namen Jules . Juliette
klickte sie an, woraufhin sich eine kurze Textdatei öffnete, ganz
offensichtlich von Scottie, wohlweislich aber nicht unterzeichnet:
J.
Lass dich nicht mit den Daten erwischen, ja? Die Info stammt von unseren
Freunden aus der Justiz, das gesammelte
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