Silo: Roman (German Edition)
war allein, entlassen aus einem Job, von
dem sie nicht wusste, ob sie ihn je gewollt hatte. Übrig geblieben waren am
Ende nur die Leichen ihrer Freunde. Ihr ehemals einfaches Leben war in
Auflösung begriffen.
»Das geht sicher
vorüber«, sagte eine Stimme hinter ihr. Juliette drehte sich um und sah Bernard
vor dem Gitter stehen, seine Hände berührten die Stangen.
Juliette wich zurück
und setzte sich auf die Koje. Dem grauen Panorama drehte sie den Rücken zu.
»Sie wissen, dass
ich Scottie nicht umgebracht habe«, sagte sie. »Er war mein Freund.«
»Warum, glauben Sie,
sind Sie hier eingesperrt? Der Junge hat Selbstmord begangen. Die jüngsten
Tragödien haben ihn vermutlich aus der Bahn geworfen. Das ist nicht
ungewöhnlich, wenn Menschen in einen neuen Bereich des Silos umziehen, weg von
Familie und Freunden, und eine Arbeit antreten, für die sie nicht ganz geeignet
sind …«
»Wieso werde ich
dann festgehalten?« Juliette schöpfte Hoffnung, dass es vielleicht doch keine
Zweifachreinigung geben würde. Weiter hinten auf dem Flur konnte sie Peter vor-
und zurückschlurfen sehen, als verhindere eine materielle Schranke, dass er
näher kam.
»Unautorisiertes
Betreten des vierunddreißigsten Stockwerks«, sagte Bernard. »Bedrohung eines
Silobewohners, Einmischung in IT-Angelegenheiten,
Entfernen von IT-Eigentum aus dem Sicherheitsbereich …«
»Das ist doch
Unsinn! Ich bin von einem Ihrer Mitarbeiter gerufen worden. Ich hatte jedes
Recht der Welt, mich dort unten aufzuhalten.«
»Das werden wir
überprüfen«, sagte Bernard, »Peter wird sich darum kümmern. Ich fürchte, er
wird Ihren Rechner als Beweismittel sichern müssen. Meine Leute in der IT sind sicherlich am besten qualifiziert, um zu prüfen,
ob …«
» Ihre Leute?
Was sind Sie denn nun? Mayor oder IT-Chef? Beides geht laut Silovertrag nämlich nicht.«
»Darüber wird bald
abgestimmt. Der Vertrag ist auch früher schon geändert worden. Das ist so
vorgesehen, wenn die Situation es verlangt.«
»Und deshalb wollen
Sie mich aus dem Weg haben.« Juliette trat näher ans Gitter heran, damit Peter
Billings sie sehen musste. »Vermutlich haben Sie diesen Posten schon immer
gewollt, richtig?«
Peter zog sich aus
ihrem Blickfeld zurück.
»Juliette. Jules.«
Kopfschüttelnd schnalzte Bernard mit der Zunge. »Ich will Sie nicht aus dem Weg
haben, ich will niemanden hier aus dem Weg haben. Ich will, dass jeder an
seinem Ort ist. Dort, wo er hingehört. Scottie war einfach nicht für die IT gemacht. Und ich finde, Sie sind nicht für die oberen
Stockwerke geschaffen.«
»Aha. Dann werde ich
jetzt wieder in die Mechanik zurückverbannt? Wegen dieser blödsinnigen
Anschuldigungen?«
»Verbannt ist ein
entsetzliches Wort! Das haben Sie sicherlich nicht so gemeint. Aber ganz
ehrlich – wollen Sie denn nicht wieder in Ihren alten Beruf zurück? Sind Sie in
der Mechanik nicht glücklicher gewesen? Hier oben muss man so viele Dinge
beherrschen, die Sie nie gelernt haben. Und die Leute, die Sie für dieses Amt
ausgesucht haben und Ihnen die Sache hätten erleichtern können …«
An diesem Punkt
hielt er inne. Dass er den Satz einfach so stehen ließ, war letztlich noch
schlimmer, als wenn er weitergesprochen hätte. Er zwang Juliette, das Bild für
sich zu ergänzen. Sie sah in Gedanken zwei frisch aufgeschüttete Erdhügel, auf
denen noch die Fruchtschalen von der Trauerzeremonie lagen.
»Sie dürfen jetzt
Ihre Sachen packen – alles, was nicht zur Beweissicherung benötigt wird – und
dann nach unten gehen. Wenn Sie sich auf den Polizeistationen unterwegs jeweils
bei meinen Deputys melden und uns über Ihren Verbleib auf dem Laufenden halten,
werden wir die Anklagen fallen lassen. Betrachten Sie Ihre Freilassung als eine
Erweiterung meiner kleinen … Amnestie.«
Er war näher
herangekommen, und sie sah, wie er lächelnd seine Brille auf der Nase
hochschob.
Juliette biss die
Zähne zusammen. Sie dachte daran, dass sie noch nie, noch nie in ihrem ganzen
Leben jemanden ins Gesicht geschlagen hatte.
Und nur aus Angst,
ihn zu verfehlen, danebenzuschlagen und sich die Finger an den Stahlstangen zu
brechen, hielt sie sich auch diesmal zurück.
* * *
Ungefähr
eine Woche war vergangen, seitdem sie in den obersten Bereich gekommen war, und
nun verließ sie ihn mit weniger Habseligkeiten, als sie mitgebracht hatte. Man
hatte ihr einen blauen Arbeitsoverall gegeben, der ihr viel zu groß war. Peter
verabschiedete sich nicht einmal richtig
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