Silo: Roman (German Edition)
von ihr, was wahrscheinlich eher mit
seiner Verlegenheit zu tun hatte als damit, dass er ihr tatsächlich einen
Vorwurf machte. Er führte sie durch die Kantine hindurch und bis zur Treppe.
Als sie sich umdrehte, um ihm die Hand zu geben, starrte er auf seine Zehen,
die Daumen hatte er in den Overall gehakt. Der Sheriffstern steckte schief an
seiner Brust.
Juliette trat ihren
langen Gang durch den Silo an. Körperlich würde es weniger anstrengend sein als
der Aufstieg, dafür aber in anderer Hinsicht viel Kraft kosten. Was war im Silo
geschehen und warum? Juliette hatte unweigerlich das Gefühl, dass sie im
Zentrum des Ganzen stand und einen Teil der Schuld auf sich geladen hatte.
Nichts von all dem wäre passiert, wenn sie in der Mechanik geblieben wäre. Sie
würde vermutlich noch immer über den fehlerhaften Generator meckern, würde nachts
nicht schlafen, weil sie auf die unvermeidliche Panne wartete, darauf, dass
alles im Chaos versank und sie dem Silo beibringen müsste, mehrere Jahrzehnte
mit dem Notstromaggregat zu überleben. Jetzt hatte Juliette eine andere Art von
Panne erlebt: Nicht die Maschinen hatten den Geist aufgegeben, sondern die
Menschen. Es tat ihr unendlich leid um Scottie, er war ein so
vielversprechender, so talentierter Junge gewesen, den es nun viel zu früh das
Leben gekostet hatte.
Sie war nur kurz
Sheriff gewesen, hatte den Stern nur für einen Moment an ihrer Brust getragen,
trotzdem verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, Scotties Tod aufzuklären.
Irgendetwas stimmte mit dem Selbstmord des Jungen nicht. Sicherlich hatte es
Anzeichen gegeben, er hatte Angst gehabt, sein Büro zu verlassen. Aber er war
auch Walkers Schatten gewesen und hatte von dem alten Mann die Tendenz zur
Zurückgezogenheit vielleicht abgeguckt. Außerdem hatte er Dinge erfahren, die
zu groß waren für sein junges Gemüt. Er hatte Angst gehabt, so große Angst,
dass er Juliette gebeten hatten, zu ihm zu kommen. Und trotzdem, sie kannte
Scottie wie ihren eigenen Schatten, sie wusste, dass er nicht der Typ war, der
sich umbrachte. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob denn Marnes der
Typ dazu gewesen war. Wenn Jahns jetzt bei ihr gewesen wäre – hätte die alte
Bürgermeisterin gewollt, dass Juliette in den beiden Todesfällen ermittelte?
Hätte Jahns nicht darauf bestanden, dass die Sache faul war?
»Ich kann nicht«,
flüsterte sie Jahns’ Geist zu, und ein Träger auf dem Weg nach oben drehte sich
im Vorbeigehen nach ihr um.
Auf dem weiteren
Abstieg behielt sie ihre Gedanken für sich. Als sie zum Stockwerk mit der
Säuglingsstation kam, blieb sie stehen und überlegte länger und angestrengter
als beim Aufstieg vor einer Woche, ob sie hineingehen und ihren Vater besuchen
sollte. Damals hatte ihr Stolz sie abgehalten. Diesmal setzte die Scham ihre
Beine in Bewegung. Juliette lief auf der Wendeltreppe vor ihrem Vater davon und
verfluchte sich selbst, dass sie sentimental wurde und an die Vergangenheit
dachte, die sie so lange und erfolgreich aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte.
Vor dem Eingang zur IT auf der vierunddreißigsten Etage überlegte sie
abermals, ob sie haltmachen sollte. In Scotties Büro ließ sich vielleicht etwas
finden, sofern nicht längst alle Spuren beseitigt worden waren. Sie schüttelte
den Kopf. Nun begann sie schon, sich ihre persönlichen Verschwörungstheorien
zurechtzulegen. So schwer es ihr auch fiel, sie musste den Tatort hinter sich
lassen – sie wusste, dass man sie nicht einmal in die Nähe von Scotties Büros
gelassen hätte.
Sie ging weiter die
Treppe hinunter und dachte, dass auch die Lage der IT-Abteilung im Silo vermutlich kein Zufall war. Juliette
hatte noch weitere zweiunddreißig Stockwerke zu bewältigen, bevor sie beim
ersten Deputy vorsprechen musste, dessen Büro in der Mitte des mittleren
Bereichs lag. Da das Sheriffbüro oben auf der ersten Etage lag, war die IT also so weit wie keine andere Abteilung von sämtlichen
Polizeiwachen im Silo entfernt.
Nach dem Treffen mit
dem ersten Deputy gegen Mittag – sie hatte ein Stück Brot und Obst und den
guten Rat von ihm bekommen, zu essen – durchquerte sie zügig die mittleren
Stockwerke. Als sie an den Wohnbereichen vorbeikam, überlegte sie, auf welcher
Etage Lukas wohl wohnte und ob er von ihrer Verhaftung überhaupt erfahren
hatte.
Die Last der
vergangenen Woche schien sie die Treppe hinunterzuziehen, die Schwerkraft
zerrte an ihren Stiefeln. Der Druck ihres Sheriffpostens ließ nach, je mehr
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