Silo: Roman (German Edition)
jemals brauchen würden, sei gesorgt. Juliette hatte allmählich
so ihre Zweifel an dieser Geschichte. Sie hatte vor einigen Jahren in dem Team
gearbeitet, das erstmals über zweitausend Meter tief gebohrt hatte und auf neue
Ölfelder gestoßen war. Sie hatte ein Gefühl für die Größe und das Ausmaß der
Welt unterhalb des Silos. Und nun hatte sie mit eigenen Augen nach draußen gesehen,
die gespenstischen Rauchschwaden dort, die Wolken, die hoch oben über den
Himmel zogen. Sie hatte sogar einen Stern gesehen, von dem Lukas behauptet
hatte, er bewege sich in unvorstellbar weiter Ferne. Welcher Gott würde unten
so viel Gestein erschaffen und oben so viel Luft und dazwischen einen so
mickrigen Silo?
Außerdem waren da
die verfallende Skyline und die Bilder in den Kinderbüchern – beide schienen
auf etwas hinzuweisen, das über den Silo hinausging. Die Priester hätten
natürlich gesagt, dass die Skyline ein Beweis dafür sei, dass der Mensch seine
Grenzen nicht überschreiten dürfe. Aber die Kinderbücher? Die vielen
verblichenen Farben? – Das alles entstamme der überbordenden Phantasie von
Schriftstellern, würde es heißen. Eine Berufsgruppe, die man abgeschafft hatte,
weil sie zu viele Probleme heraufbeschwor.
Doch Juliette sah in
den Büchern keine überbordende Phantasie. Sie hatte ihre Kindheit auf der
Säuglingsstation verbracht und jedes Buch, das nicht aussortiert worden war,
wieder und wieder gelesen. In all diesen wundersamen Geschichten und in
sämtlichen Theaterstücken, die im Marktbereich aufgeführt worden waren, hatte
sie mehr Sinn gesehen als in diesem verfallenden Betonzylinder, in dem sie noch
immer lebten.
Sie zog den letzten
Wasserschlauch ab und löste die Pumpe vom Motor. Die Stahlspäne ließen
vermuten, dass eines der Antriebsräder abgenutzt war. Juliette arbeitete ganz
mechanisch, erledigte eine Arbeit, die sie schon unzählige Male zuvor
verrichtet hatte. Dabei dachte sie an die vielen Tiere zurück, die diese Bücher
bevölkerten und von denen die meisten noch nie ein lebender Mensch zu Gesicht
bekommen hatte. Juliette glaubte nicht daran, dass es diese Tiere nie gegeben
hatte. Das einzig Erfundene war ihrer Meinung nach, dass sie sprechen konnten
und sich wie Menschen benahmen. In einigen Büchern gab es auch Mäuse und
Hühner, die diese Tricks beherrschten, und jeder wusste, dass auch diese Tiere
der Sprache nicht mächtig waren. All die anderen seltsamen Wesen musste es auch
irgendwo geben oder gegeben haben. Das war ihre innerste Überzeugung,
vielleicht auch weil die Tiere letztendlich doch nicht so seltsam aussahen.
Jede Art schien einem Plan zu folgen – ähnlich wie die Silopumpen. Man sah,
dass sie alle miteinander zusammenhingen. Es schien eine bestimmte Absicht
hinter dieser Schöpfung zu stehen, und egal, wer die Tiere geschaffen hatte, er
hatte sie auf jeden Fall alle miteinander erschaffen.
Der Silo hingegen
wirkte planlos. Der Silo war nicht von Gott erschaffen worden – da war schon
eher die IT schuld! Die IT kontrollierte alle relevanten Bereiche. Die Reinigung
der Linsen war Gesetz und Religion zugleich – und die IT gab mit geradezu panischem Argwohn acht, dass dies auch
so blieb. Juliette hatte eine zweite Versorgungskette entdeckt – verschiedene
Arten von Zubehör, das zum Teil so konstruiert war, dass das Material versagte
und die Verurteilten draußen nach der Reinigung nicht überleben konnten. Hinzu
kamen die Klauseln im Silovertrag, die der IT quasi Immunität zusicherten. Es gab kaum noch einen Zweifel – die IT hatte den Silo geschaffen, die IT hielt die Menschen hier fest.
Juliette sah sich
nach Caryl um, aber die junge Frau war schon wieder weg. Die gespachtelte
Stelle an der Wand war noch dunkel, aber der Zement würde trocknen und sich in
das sonstige Grau einpassen. Juliette blickte an die Decke der Pumpenhalle – Kabel und Rohre zogen sich im Gewirr an den Wänden entlang. Ein Bündel
Dampfrohre verlief ein Stück entfernt, damit die Kabel nicht schmolzen. Ein
Kringel hitzebeständiges Klebeband hing lose von einem der Rohre ab. Juliette
sah, dass man es bald würde ersetzen müssen. Dieses Band musste zehn, zwanzig
Jahre alt sein. Sie dachte an das gestohlene Klebeband zurück, das einen
Großteil des Chaos verursacht hatte, in dem sie sich nun befand – und das kaum
mehr als zwanzig Minuten dort oben durchgehalten hätte.
Und plötzlich wusste
sie, was zu tun war. Sie hatte einen Plan, wie sie die Menschen im Silo wach
rütteln
Weitere Kostenlose Bücher