Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Jagdgründe ein.
»Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das klang jetzt schon wie tot.
Verflucht, das Reh stirbt, dachte Plotek noch, als er plötzlich eine Stimme hörte, die gar nicht so depressiv behauptete: »Es ist vollbracht.«
Das war jetzt aber nicht das Reh. Das war eine andere Stimme. Das war Dr. Wehrlis Stimme. Das war Dr. Wehrli selbst.
»Herr Plotek!«
»In Ihre Hände lege ich meinen Geist.« Plotek schlug die Augen auf.
Dr. Wehrli lächelte wissend. »Ich sehe, Ihnen geht es schon wieder ganz gut.«
Und tatsächlich. Der Rücken war wieder zurechtgerückt. Der Fuß tat nicht mehr weh. Jetzt zurück zum Qigong, dachte Plotek, und dann kann die fette Marlies mal sehen, wie eine richtige Verbindung zwischen Himmel und Erde aussieht! Aber vergiss es. Nichts Qigong, sondern Shiatsu. Der Höhepunkt der frühmorgendlichen Therapieeinheit war die Massage mit Shiatsu-Anleihen beim Engel Wehrli. Da schien Plotek die vergeigte Qigong-Übung dann doch noch zu gelingen: Dank Frau Wehrlis Einsatz wurde die Erde mit dem Himmel verbunden. Mehr Himmel als Erde.
Die Energiepunkte sollten aktiviert werden. So die Theorie. In der Praxis turnte die grazile Frau Wehrli auf dem nackten Plotek, der bäuchlings auf einem Futon am Boden lag, herum und bearbeitete ihn shiatsumäßig mit Handballen, Ellbogen und Knien. Die Folge: Plotek hob ab. Er schwebte geradezu. Dabei wurden nicht nur die Energiepunkte angeregt. Sein ganzer Körper regte sich. Auch da, wo Plotek es nicht wollte. Wo er es unbedingt zu vermeiden hoffte. Bedeutet: Er spürte eine hammerharte Erektion wie einen Baumstamm zwischen den Beinen. Bloß gut, dass er auf dem Bauch lag. Konnte er den Hammer zumindest Frau Wehrlis Augen entziehen. Das Shiatsu hatte nicht nur etwas Erregendes, sondern auch etwas Lösendes. Oder war es weniger das Shiatsu als die Frau Wehrli? Egal, auf jeden Fall war es so lösend, dass Plotek seinen Schließmuskel nicht mehr im Griff hatte. Unkontrolliertes Gefurze war die Folge. Mit anschließender Schamesröte im Gesicht. Wieder von Vorteil, dass er auf dem Bauch lag. Blieb Frau Wehrli seine Scham erspart.
Nachdem Frau Wehrli seinen Rücken bearbeitet hatte, knöpfte sie sich Ploteks Füße vor. Fußmassage, herrlich! Auch ein wenig kitzlig. Plotek biss sich aufs Wangenfleisch, um nicht zu lachen. Bis Blut kam. Nach zwanzig Minuten war auch das vorbei. Schade eigentlich, dachte Plotek.
»Sie können jetzt noch ein wenig liegen bleiben.« Frau Wehrli verabschiedete sich. »Mein Mann wird gleich zu Ihnen kommen.«
Kam er auch.
»So, Herr Plotek. Das war jetzt die erste Übungseinheit.« Dr. Wehrli reichte dem noch immer auf dem Futon liegenden Plotek die Hand. Ohne diese zu ergreifen, sprang Plotek flink wie ein Reh vom Boden auf. Als wollte er schon wieder eine Verbindung mit dem Himmel eingehen.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Geht.«
»Ich weiß, am Anfang ist es nicht ganz einfach.« Der Doktor legte seine Hand auf Ploteks Schulter. »Die Umstellung, et cetera pepe. Aber Sie werden merken, es wird jeden Tag besser. Mit fortschreitender Zeit fällt es Ihnen immer leichter.«
Das klang für Plotek zwar gut gemeint, aber wenig überzeugend. Er blickte folglich ziemlich skeptisch drein, während Dr. Wehrli weiter auf ihn einredete.
»Das Nachmittagsprogramm können Sie frei gestalten. Wir haben diverse Angebote. Alles an der frischen Luft. Sie müssen nämlich wissen, wir haben hier in Sils Maria die beste Luft, die Sie sich vorstellen können. Diese reine Bergluft ist die wahre Medizin. Deshalb sollten Sie bestrebt sein, sich möglichst viel davon zuzuführen.«
Wie zuführen?, dachte Plotek und fühlte sich, als bekäme er gleich gar keine Luft mehr.
»Sie müssen raus! Raus in die Natur, atmen, immer wieder, ein, aus, ein, aus.« Dr. Wehrli zeigte wie ein Feldherr mit einer weit ausholenden Geste zum Fenster hinaus. In einiger Entfernung war der See zu sehen.
»Es gibt im Prinzip drei Möglichkeiten. Erstens: Sie wandern. Zweitens: Sie laufen Ski, Langlauf. Das können Sie sogar auf dem Silsersee machen.« Wieder die Handbewegung zum Fenster. »Oder drittens: Sie angeln.«
Wandern ist anstrengender als Angeln, dachte Plotek. Und Skifahren unmöglich. Für Plotek unmöglich.
»Oder heute angeln und morgen wandern«, sagte Dr. Wehrli, wie man sagt: »Heute hier, morgen tot!«
Plotek nickte halbherzig.
»Die Ausrüstung bekommen Sie an
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