Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Jahreszeit nun wirklich nicht der Volkssport Nummer eins zu sein. Wenn man es genau nahm, angelte im Winter so gut wie niemand, weil Angeln im Winter eigentlich unmöglich war. Wie Plotek nicht viel später herausfinden sollte. Aber in seinem Fall hatte es auch gar nichts mit Sport zu tun: Bei ihm ging es um reine Therapie. Da war es egal, ob es möglich war oder nicht. Allein das theoretische Angeln war schon ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn’s hilft, dachte er, laufe ich auch mit einer Parabolantenne durch die Gegend.
An der Rezeption des Hotel Zentral fragte er nach Vinzi.
»Im Frühstücksraum. Einfach gerade durch.«
Die Uhr in der Hotellobby schlug elfmal, dabei schaute ein kleiner zerzauster Vogel aus einem Häuschen und pfiff, als würde er gleich abgemurkst. Als Plotek den Frühstücksraum betrat, blieb er erstaunt an der Tür stehen. Er kam sich vor wie in Graceland: Elvisse, wohin das Auge blickte. Der Sänger, der Mythos, der King. In den unterschiedlichsten Ausführungen: klein, groß, dick, dünn, alt, jung. Sogar ein Kleinwüchsiger war darunter. Langsam dämmerte es Plotek. Hatte nicht Klemens, der King-Imitator mit dem Tourette-Syndrom, vor ein paar Monaten beim Elvis-Contest an der Ostsee davon gesprochen, dass im Januar irgendwo in der Schweiz ein weiterer Wettbewerb stattfinden würde?
Jetzt muss man wissen, dass Plotek und Vinzi im letzten Sommer zusammen in Grömitz an der Ostsee gewesen waren und dort einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Mit einer Menge Toten, einem Neugeborenen und allerhand Tohuwabohu.
»Hier!«, schrie Vinzi inmitten der Elvis-Imitatoren und winkte Plotek zu sich.
»Setz dich! Willst du Ei mit Speck?«
Plotek setzte sich und schüttelte den Kopf.
»Hast du schon gefrühstückt?«
Plotek verneinte erneut.
»Gibt’s da nichts in dieser Klinik?«
Na ja, es gab schon was, aber nicht das, wonach Plotek sich sehnte.
»Na, hau schon rein, wenn du willst!« Vinzi schaufelte sich das Ei, den Speck und die Leberwurst in den Schlund. Ploteks Magen fing an zu knurren. Speichel sammelte sich in seinem Mund, als wollte er gleich seinen ganzen Körper überschwemmen. Plotek war drauf und dran, nach der Leberwurst zu greifen. Bei genauem Hinsehen glaubte er allerdings, in der Leberwurst die stechenden Augen von Dr. Wehrli zu erkennen. Griff er also nicht zu.
»Das Reh ist weg!«, war das Erste, was aus Ploteks Mund kam.
»Was?«, kam von Vinzi retour.
»Das Reh ist aus dem Kofferraum verschwunden.«
»Nein!«
»Doch!«
»Geklaut?«
»Vermutlich.«
»Verdammt!«
»Wer macht so was?« Plotek hatte noch immer große Schwierigkeiten, den Diebstahl nachzuvollziehen. »Warum klaut man ein unschuldiges Reh aus einem Kofferraum?«
Vinzi hob die Schultern. Er schüttelte den Kopf und zeigte erneut auf die Leberwurst, den Speck und die Eier, während Ploteks Magen noch immer wie ein feindseliger Hund vor sich hin knurrte. Die Nachricht schien Vinzi, trotz leichter Irritation und Unverständnis, nicht den Appetit zu verderben.
Eine asiatisch aussehende zierliche Frau, kaum eins fünfzig groß, kam an den Tisch und fragte freundlich und mit fernöstlichem Akzent: »Was darf ich bringen für Sie?«
Plotek schüttelte, noch immer Wehrlis stechende Augen in Erinnerung, den Kopf.
»Das ist Plotek.« Vinzi zeigte mit der einen Hand auf Plotek und mit der anderen auf die Frau. »Und das ist Frau Pan.«
Frau Pan verbeugte sich kurz und lächelte. So wie nur Asiaten lächeln können. Eine Sonne im Gesicht. Das Gesicht eine Sonne.
»Sie angeln gehen?« Die lächelnde Frau Pan deutete mit ihrer kleinen, zarten Kinderhand auf die Angel, die jetzt an der Wand gelehnt wie ein postmodernes Kunstwerk anmutete und nicht wie eine schnöde Angel. Plotek konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch für Frau Pan Angeln zu dieser Jahreszeit so absurd war wie Skifahren im Sommer.
Erst jetzt bemerkte Vinzi die Angelrute. »Du gehst angeln?«, fragte er nun ebenfalls verblüfft, wie man fragt: »Du bist in der FDP ?«
Von so viel Aufmerksamkeit unangenehm berührt, hob Plotek unschlüssig die Schultern. »Dr. Wehrli meinte …«
Noch ehe Plotek den Satz zu Ende bringen konnte, nickte Frau Pan überzeugt und grinste noch breiter als zuvor. Als wollte sie sich gleich Dr. Wehrlis Freizeitprogramm anschließen. Die Angel an der Wand verkam sogleich vom Kunstobjekt zu einem Kultobjekt. Um an Wehrlis Kompetenz keinen Zweifel zu lassen, schob Frau Pan ein süßlich
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