Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
weder von Jäggi noch von Agnes auch nur die geringste Spur fanden, fuhren sie in die zweite hinunter. Da standen fast keine Autos mehr.
»Hallo?«
Niemand antwortete. Es war nichts zu hören. Sie wollten schon wieder umkehren, als sie etwas Rotes hinter einem der Wagen hervorlugen sahen. Aus der Ferne war es nicht genau zu bestimmen. Als sie näher kamen, mussten sie feststellen, dass dort ein roter Damenschuh lag. Dann sahen sie ein Bein, einen Körper, einen Menschen. Es war eine Frau, die zusammengekauert auf dem Boden lag und sich nicht rührte.
»Verflucht, das ist …«, sagte Vinzi, und Plotek ergänzte erschrocken: »Agnes?«
Es war tatsächlich Agnes.
»Verdammt!«
Plotek kniete sich jetzt neben die reglos daliegende Agnes, hob ihren Kopf von der Erde hoch und tätschelte b ehutsam ihre Wangen. So lange, bis sie plötzlich die Augen aufschlug, ihn ansah und sagte: »Gut siehst du aus.«
Du nicht, dachte Plotek.
»Au, mein Kopf schmerzt!« Agnes griff sich an die Stirn, wo ein Blutfleck zu sehen war.
Anschließend stand sie stöhnend unter Mithilfe von Plotek vom Boden auf.
»Was ist denn passiert?«, fragte Vinzi. »Wo ist Jäggi?«
»Keine Ahnung.«
»Hat er dich …«
»Hmm, weiß nicht.« Agnes dachte lange nach. »Ich war auf jeden Fall mit ihm hier verabredet. Ich bin aber zu spät gekommen, weil, weil …« Sie stockte, überlegte und fuhr dann fort: »Ich war unter der Dusche, ja. Und als ich die SMS entdeckte, war schon eine halbe Stunde vorbei. Als ich hier aufgetaucht bin, war dann niemand zu sehen. Auch nicht zu hören.« Wieder machte sie eine kurze Pause. »Aber … aber spüren, ja, spüren konnte ich, dass da jemand war. Zuerst nur intuitiv, dann am Hinterkopf.« Sie befühlte ihren Hinterkopf mit der Hand. »Verdammt, eine Beule. Derjenige muss mich niedergeschlagen haben.«
»Jäggi?«
»Vielleicht.«
»Aber warum?«, wollte Plotek wissen.
»Weiß nicht.«
»Schau mal!« Vinzi zeigte auf den Boden zwischen zwei geparkten Autos.
»Was ist das?«, fragte Agnes.
»Eine Pfeife.« Vinzi bückte sich und hob sie auf. »Jäggis Pfeife!«
»Die trägt er normalerweise im Mund.«
»Stimmt, und zwar immer.«
»Wenn nicht, ist er tot. Oder schläft gerade.«
»Du meinst, dass auch Jäggi vielleicht …«
»Kann sein.«
Vinzi untersuchte den Fundort näher. »Hier!« Nicht weit von der Pfeife entfernt lag noch etwas auf der Erde. »Eine Spieluhr.« Vinzi hob sie auf. »Zieh!«
Plotek zog.
»Schubert!«
»Klar.«
» Wiegenlied .«
»Auch klar«, sagte Vinzi, ohne dieses Mal mitzusingen.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Plotek wissen.
»Vielleicht war Jäggi das nächste Opfer.«
»Aber Jäggi ist doch kein Elvis.«
»Da!« Wieder zeigte Vinzi auf den Boden, als wäre die Tiefgarage ein Schokoladenei. Mit allerhand Überraschungen. »Blut!«
»Womöglich ist er mit einem Auto wegtransportiert worden.«
»Ja, womöglich.«
»Ich glaube, der Jäggi wollte mir etwas mitteilen oder zeigen«, mischte sich Agnes, noch immer die Hand an der Stirn, in das Gespräch ein.
»Was?«
»Weiß nicht, aber vielleicht wusste er mehr, als wir ahnen. Und vielleicht wollte er dieses Wissen teilen.«
»Mit dir?«, fragte Plotek.
»Klar.«
»Und der Mörder kam ihm zuvor«, mutmaßte Vinzi.
»Womöglich.«
»Scheiße.«
»Ja.«
Auf dem Schulhof in Sils liefen die Aufbauarbeiten für den Elvis-Contest auch noch am Abend auf Hochtouren. Große Scheinwerfer beleuchteten den Platz. Die beiden Zeltmasten standen bereits, und das Dach wurde gerade hochgezogen. Plotek, Vinzi und Agnes machten einen kleinen Abstecher zur Schule und zogen sich dann ins Wang Tong 23 zurück, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Auch Klemens hatte sich zu den dreien gesellt.
Alle waren weitgehend ratlos, wie sie mit dieser neuen Situation, dem verschwundenen Jäggi, dem Angriff auf Agnes und dem sich verhärtenden Verdacht, dass Matteo Wehrli hinter den Morden steckte, umgehen sollten. Agnes trank ein Glas Wasser mit Aspirin und hatte mittlerweile ein Pflaster auf der Stirn. Vinzi schüttelte immer wieder den Kopf und nahm kurze, schnelle Schlucke von seinem Bierglas. Es sah ganz so aus, als wollte er sich Mut antrinken. Plotek wiederum spielte selbstvergessen mit den ungeöffneten Glückskeksen, die vor ihm lagen. Nur Klemens schien seltsam heiter zu sein. Er lächelte still vor sich hin, als belastete ihn momentan nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal der in zwei Tagen stattfindende
Weitere Kostenlose Bücher