Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Welt.
»Sag mal, ich wusste gar nicht, dass du Erfahrung als Kranführer hast.« Es klang weniger ironisch als besorgt.
»Die Erfahrung ist nicht entscheidend, sondern der Wille.«
»Und du hast …«
»Klar!« Vinzi ließ keine Zweifel daran. Da war er einfach anders als Plotek. »Das wirst du schon sehen!«
Spätestens jetzt hätte Klemens noch einmal aufbegehren müssen. Aber das Marihuana war einfach zu überzeugend.
»Und jetzt auf eure Plätze.«
Agnes platzierte sich in einem kleinen Bagger, der sich in unmittelbarer Nähe des Rollstuhls befand. Die Schaufel des Baggers war mit Sand gefüllt.
»Und was mach ich?« Plotek kam sich irgendwie überflüssig vor.
»Du beobachtest das Ganze und steckst bei Bedarf den Stecker für die Baustrahler in die Steckdose.« Vinzi reichte ihm den Stecker und eine Kabelrolle.
Das ist aber eine ganz besonders verantwortungsvolle Aufgabe, dachte Plotek, nahm das Kabel und die Kabelrolle und nickte halbherzig.
»Und wo?«
»Hier im Dixi-Klo.« Vinzi zeigte zur blauen Plastikkabine, die zwischen Rollstuhl und Bagger stand.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Vinzi gab Plotek einen Schubs, sodass der sich in Richtung Dixi-Klo aufmachte. Kaum war er einen Schritt gegangen, stoppte ihn Vinzi schon wieder.
»Moment noch! Hier.« Vinzi reichte ihm ein altertümliches Mobiltelefon. Es war das von Klemens. Die Nummern von Agnes und Vinzi waren eingespeichert. »Damit die Kommunikation flutscht!« Er lächelte siegessicher, als könnte nichts mehr schiefgehen. »Also, los jetzt!«
Vinzi stieg die Leiter zum Führerhaus des Krans hoch. Plotek sah ihm dabei zu, wie er sich allein mit den Armen immer weiter nach oben zog, und war von dessen Kraft beeindruckt. Klemens saß unverändert im Rollstuhl und rauchte einen weiteren Joint. Den dritten in dieser Nacht. Agnes hatte sich bereits in den Bagger verzogen. Plotek begab sich mit dem Stecker in der Hand und der Kabeltrommel in das stinkende Dixi-Klo und sah anschließend durch den Spalt hinaus zur dunklen Baustelle.
Eine halbe Stunde lang passierte nichts. Gar nichts. Außer dass Plotek im Dixi langsam, aber sicher ohnmächtig zu werden drohte. Wegen des Gestanks. Die Kirchturmuhr schlug zweimal. Plotek dachte plötzlich an das Reh. Er konnte es sich auch nicht erklären, warum er gerade in dieser von Spannung bestimmten Situation an das Reh denken musste. Eine Viertelstunde später schlug die Kirchturmuhr ein weiteres Mal.
»Viertel drei«, murmelte Plotek und drückte auf Vinzis Nummer.
»Ja?«
»Der kommt nicht mehr«, sagte Plotek in einer Mischung aus Ärger, Enttäuschung und Müdigkeit. Er war aber auch ein wenig erleichtert. »Lass uns das Ganze abblasen.«
Eine Pause am anderen Ende der Leitung entstand. Schweigen.
»Hallo?«
»Noch fünf Minuten«, drang Vinzis Stimme aus dem Plastikteil. »Dann …« Er stockte.
»Was ist?«
»Verdammt! Ich glaube … da am Tennisplatz, da ist jemand.«
»Was?«
»Ich sehe jemanden … am Tennisplatz, gleich hinter der Baustelle. Da kommt wer!«
»Ist er das?« Plotek bemerkte, wie seine Stimme brüchig wurde.
»Weiß nicht. Er kommt näher … verflucht, das ist er.«
»Und jetzt?«
»Sag Klemens, er soll singen.«
»Was?«
»Mach schon!«
»Sing!«, zischte Plotek durch den Spalt aus dem Dixi-Klo hinaus Richtung Rollstuhl. Klemens war vom vielen Marihuana offenbar fast eingeschlafen, schreckte hoch und legte dann tatsächlich los. Er sang leise »Love Me Tender« vor sich hin. Trotz der drei Joints hatte das THC ihn noch nicht ausreichend beruhigt. Das Lied hörte sich an wie ein einziger Fluch, durchsetzt von Schimpfwörtern in Hülle und Fülle.
»Love me … Kacke, Kamelklöte, Schmalzdackel … tender … fuck, Moppelkotze, Vollnapf, fuck … love me … Pissritze, Rudelbumser, Arschritze … sweet, never let me … Brunzkachel, Tuntenpapst, Ficker, Arsch … go …«
Matteo Wehrli, angezogen von Klemens’ Gesang, betrat nun die Baustelle. Plotek konnte ihn durch den Türspalt erkennen. Langsam, fast schlendernd, ging er auf Klemens zu. In der Hand hielt er etwas.
Womöglich die Spieluhr, dachte Plotek und starrte gebannt durch den Spalt. Matteo Wehrli stand jetzt direkt hinter Klemens. Er zog an der Spieluhr und legte den Bändel mit einem geübten Griff um Klemens’ Hals.
»Jetzt!«, hauchte Plotek aufgeregt ins Handy. »Jetzt mach schon! Verdammt noch mal, mach endlich!«
Machte Vinzi im Führerhaus des Krans auch. Allerdings bewegte sich die Kette,
Weitere Kostenlose Bücher