Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
wiederholen?
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und wischte das Glas ab.
Inmitten der Kondenswassertropfen zeigte der Spiegel ihr Bild: verstörter Blick und dunkle Ringe unter geröteten Augen.
Es erschien ihr inakzeptabel, nicht mehr zu weinen, aber tief in ihrem Inneren hatte sie keine Tränen mehr.
Sie hasste sich.
Schließlich erkannte sie, dass sie etwas tun musste.
Wenn sie ihr Spiegelbild Tag für Tag ertragen wollte, dann musste sie etwas tun.
Der Raum war hell und angenehm frisch.
Das Weiß der Decke befand sich in größerer Höhe als gewöhnlich, eine gleichmäßige, tröstliche Helligkeit.
Durch die geöffneten Fenster kam eine duftende Brise herein. Sie roch nach frisch gemähtem Heu, nach Gras, das abwechselnd von Sonne und Regen geküsst wird. Ihr Aroma verkündete vom schäumenden Meer, von Wäldern und Berghöhen. Der Geruch von Wales.
Cameron Farland saß auf einem mit hellem Stoff bezogenen Stuhl, öffnete ein neues Buch und blätterte es vorsichtig durch.
Er trug einen Pullover aus nachtblauem Leinen und Hosen von der gleichen Farbe. Sein Gesichtsausdruck war entspannt, soweit das möglich war, aber die Spuren der Ereignisse in London, ein violetter Bluterguss am Wangenknochen und ein langsam heilender Schnitt an der Schläfe, waren noch erkennbar.
Die Kleidung bedeckte seine anderen Wunden. Und einige waren unsichtbar, in ihm verborgen.
Seine Haare glänzten im Sonnenlicht wärmer denn je, und seine Augen hatten die gleiche Farbe. In diesem Licht sah er aus, als sei er aus Bernstein und Elfenbein gemacht.
Er sah sich um, ließ seinen Blick durch den ganzen Raum schweifen und richtete ihn dann auf die Weiden, die durch das Fenster zu sehen waren.
Cameron seufzte und schlug eine Buchseite auf.
Er streckte seine Beine mit schmerzerfülltem Ausdruck, als sich sein Knöchel anspannte, und begann zu lesen.
Was konnte er während der Wartezeit sonst tun?
Die Würdenträger der Loge strömten zur Burg Ger Y Goeden, die Rhys und sein Vater zu diesem Anlass hergerichtet hatten.
Die Mitglieder der einflussreichsten Familien trafen nach und nach in Wales ein, wie Staubkörner im Wind, der in diesen Tagen aufgekommen war, und bald schon wären sie alle da, der Illusion des Pakts folgend.
Es würde ein glänzendes Fest für Hywel Llewelyn werden.
Rhys lächelte in sich hinein, das erste ehrliche Lächeln, das er sich zugestand, seitdem er vor zwei Tagen im Übungsraum der Sin-derella gewesen war.
Sein Vater war so nah am Ziel seiner Träume … Er freute sich schon auf ein herrliches Gemetzel.
Rhys erhob sich seufzend und der ihm am nächsten stehende Soldier stand stramm, in Erwartung eines nicht eintreffenden Befehls.
So weit sind wir gekommen? , überlegte Rhys mit selbstquälerischem Amüsement. Mächtige, antike Wesen, die bereit sind, meinen Launen zu folgen .
So war es. So hatte er es gewollt.
»Neuigkeiten?«, fragte er den Wächter mit einer Höflichkeit, an die dieser nicht mehr gewöhnt war.
»Blackwood und Fennah haben entschieden teilzunehmen«, antwortete er ihm eilig.
Rhys suchte die Augen des Soldiers und hielt sie in seinem Blick gefangen. Und die MACHT antwortete.
Aber es war nicht der brennende Energiestrom der vergangenen Monate. Er würde es nie mehr sein, und bald schon würden es alle merken.
Rhys lächelte zufrieden und wandte sein Gesicht schnell ab.
Genau wie die anderen Vampire würde dieser Soldier ihn respektieren, solange er an die Illusion seiner Unbesiegbarkeit glaubte.
»Ruf meinen Vater«, sagte er. Er wollte allein sein, um ein weiteres Experiment durchführen zu können.
Der Soldier gehorchte und Rhys blieb allein in seinen Gemächern.
Er ging rasch zum Schreibtisch und öffnete eine Schublade.
Der Dolch war unter einem Stapel Dokumente versteckt, die er keine Eile hatte durchzuarbeiten.
Mit einer plötzlichen Dringlichkeit griff er nach ihm und starrte eine Weile auf die scharfe Klinge.
Dann stieß er sie mit einer blitzartigen Geste in das Fleisch seines Arms.
Er fühlte ein heftiges, schmerzhaftes Brennen, das ihm den Atem nahm und ihn die Augen zusammenkneifen ließ.
Rhys atmete ein, zog die Waffe heraus und sah zu, wie sein Blut zu sprudeln begann.
Er wartete. Der Schmerz war noch nie so angenehm gewesen.
Er wartete, während die rote Flüssigkeit bis zu seinem Handgelenk lief, dann nahm er ein Taschentuch und säuberte die Wunde.
Mit zusammengebissenen Zähnen verband er sich den Arm und krempelte seine Hemdsärmel
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