Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
um.
Ihre Haare waren klitschnass und die Lippen blau vor Kälte.
»Sieh nur, in was für einem Zustand du bist, du zitterst ja wie Espenlaub!«
Das Mädchen öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber ihre Zähne klapperten. »Ich musste mich abreagieren, sonst wäre ich durchgedreht.«
Bethans Lachen erstaunte sie, doch es war ein angenehmer, weicher Klang.
»Das hat Elaine auch immer so gemacht. Wenn sie angespannt war, sagte sie immer, sie müsse sich bewegen.« Bethan rieb Winter die Schultern trocken und wartete geduldig, bis das Zittern langsam nachließ. »Hat’s wenigstens genützt?«
Winter schenkte ihr das erste Lächeln, seit sie auf der Insel waren.
»Nicht sehr«, gab sie zu und wrang die Haare so fest aus, dass das Wasser geräuschvoll auf die Erde tropfte. »Hatte meine Mutter noch irgendein anderes Mittel?«
»Sie war eine gute Beobachterin. Wo immer sie sich befand, suchte sie sich ein Plätzchen und fand dort etwas Schönes anzusehen. Das konnte stundenlang dauern, wenn nötig. Einmal sagte ich ihr etwas, das sie in Wut brachte, und daraufhin saß sie einen halben Tag in Kensington am Ufer des Serpentine Lake. Dann kam sie zurück und bat mich ruhig um eine Erklärung.«
Winter dachte an das Foto von Elaine, das ihre Großmutter in der Schublade aufbewahrte. Sie versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, die Farbe ihrer Wangen, wenn sie zornig war, die Art, den Mund zu verziehen, Bewegungen und Mimik, die sie nie gesehen hatte. Marion sprach nicht gern über ihre Tochter, und auf einmal spürte Winter das Bedürfnis, Bethan tausend Fragen zu stellen über ihre Mutter.
»Und deine Erklärung hat sie überzeugt?«
»Um ehrlich zu sein, nein«, antwortete Bethan. »Aber sie hörte mich an und versuchte zu verstehen. Sie akzeptierte es erst Jahre später, als die Zeit reif war.«
»Ich will nicht Jahre damit verbringen, zu verstehen, was Doug von mir erwartet«, protestierte Winter.
Bethan bückte sich, um Winters Kleider aufzuheben, als sei sie ein kleines Mädchen, und reichte sie ihr.
»Dann hör ihm zu, Winter. Ich sage nicht, du sollst ihm vertrauen, denn das ist etwas, das man nicht mit dem Kopf entscheiden kann. Aber du könntest dir klar werden, dass er seine Gründe hat, sich so zu verhalten, wie er es tut.«
Das Mädchen drehte sich um und schaute sie skeptisch an. »Er hat mir den Anhänger weggenommen … Ich bin so weit gelaufen, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann, und alles, was ich gelernt habe, ist, den Schrei des Eissturmvogels und irgendwelcher Tölpel oder wie sie heißen zu erkennen.«
»In London hättest du das nie gelernt«, erwiderte Bethan. »Und früher oder später wirst du dieses Wissen schätzen lernen.«
Sie wartete, bis Winter sich wieder angezogen hatte, legte ihr dann den Arm um die Schulter und begleitete sie ohne Hast nach Hause.
Winter zitterte noch immer und schien wirklich erschöpft zu sein.
Ich hoffe inständig, dass Dougall weiß, was er tut , dachte Bethan.
Als sie beim Cottage ankamen, war die Zeit des Abendessens schon eine ganze Weile vorüber, doch in diesen Breitengraden waren die Sommernächte so kurz, dass der Horizont noch von dem silbern-pfirsichfarbenen Zwielicht erleuchtet war, das die Bewohner der Shetlandinseln »Simmer Dim« nannten.
In wenigen Wochen würde die Sonne hinter den Höhen der Inselgruppe nicht mehr untergehen.
Bevor sie eintraten, klopfte Bethan an. Das tat sie aus reiner Höflichkeit, denn Dougall hatte ihr Näherkommen sicher bereits von Weitem vernommen.
Und tatsächlich rief er, kaum hatten sie den Fuß in den Hausflur gesetzt, aus dem Esszimmer nach Winter.
Das Mädchen ging mit der Begeisterung einer Verurteilten zu ihm, und Bethan verschwand rasch in ihrem Zimmer.
»Hat dir das Bad im Meer gutgetan?«, fragte Dougall entspannt.
Er saß am Tisch, der von Kerzenlicht erhellt und seltsamerweise gedeckt war.
Winter betrachtete argwöhnisch die Szene. In den vergangenen Tagen war das Abendessen immer ein rasches und schlichtes Mahl gewesen, das sie in der Küche zu sich genommen hatten. Zum ersten Mal wurde nun im Esszimmer aufgetischt.
Der Vampir beobachtete sie aus den Augenwinkeln, und plötzlich wurde sie sich bewusst, was anders war als sonst: Auf dem eleganten nachtblauen Damasttischtuch standen nur zwei Kelche, eine Karaffe mit klarem Wasser und eine kleine Amphore aus geschliffenem Glas, gefüllt mit einem roten Pulver.
Serum.
»Setz dich, meine Liebe«, sagte er mit einem
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