Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
für dich«, rief er über der Schulter zurück, bevor er in eine dunkle Gasse einbog. »Wenn du Hilfe brauchst, frag nach dem alten Slinky.«
U nruhig ging Winter durch die schlecht beleuchteten Flure eines alten Gebäudes. Im Wachzustand war sie noch nie da gewesen, doch Rhys ging ihr voraus, und durch seine Gedanken wurde ihr der Ort irgendwie vertraut.
Die Räume waren hoch, die Wände blendend weiß und mit Stuckdekorationen ausgeschmückt. Ein dicker scharlachroter Teppichboden dämpfte das Geräusch ihrer Schritte.
Was tue ich hier? , fragte sie sich erstaunt, während ihre Augen sich umsahen und versuchten, anhand des Lichts, das von draußen einfiel, etwas zu erkennen.
Die Atmosphäre war feierlich, beinahe unheimlich.
Sie griff mit der Hand an den Hals, auf der Suche nach dem Anhänger.
Es ist nur ein Traum , dachte sie. Doch sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert. Sie wagte es nicht, Rhys zu rufen, als endlich das, was er bei ihrer letzten Begegnung gesagt hatte, ganz deutlich in ihr erklang.
›Versprich, dass du mir verzeihen wirst …‹
Aber was?
Sie schaute sich weiter unruhig um. Zum ersten Mal hatte sie es nicht eilig, dass Rhys ihre Anwesenheit bemerkte.
›Versprich, dass du mir verzeihen wirst …‹
Er war umgeben von jener finsteren, quälenden Energie, von der er sie in der Nacht ihres Geburtstags ferngehalten hatte. Er schien sich in den Schatten aufzulösen, sie mit MACHT anzufüllen. Hier, allein an diesem menschenleeren Ort, wirkte er überhaupt nicht wie der Junge, in den sie verliebt war: Er war ein Vampir, ein unmenschliches, mit der Nacht verwobenes Geschöpf.
Was geschieht mit dir, Rhys?
Er hatte eine unsichtbare Barriere zwischen sich und dem Rest der Welt errichtet. Winter verstand, dass er sich schützen wollte, auch vor ihr, dass dieser Moment nur ihm allein gehören sollte.
Er hatte sie nicht eingeladen. Sie hatte nur dorthin gefunden, weil sie beim Einschlafen an ihn gedacht hatte.
Sie spürte, wie die Angst in ihr hochkroch.
Sie folgte ihm. Vielleicht brauchte er sie, vielleicht konnte sie ihm helfen …
Ich bin bei dir, Rhys , flüsterte sie tonlos. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, die Finsternis vertreiben, die sich um ihn herum verdichtete, und die Vision in einen süßen Traum verwandeln.
Er würde es nicht wollen , sagte eine unsympathische Stimme in ihr, diesmal nicht .
Winter atmete tief durch und rief nach ihrem Schutzschild. Sie wusste selbst nicht, warum sie spürte, dass sie ihn brauchen würde. Sie befand sich an einem Scheideweg: Ein einziger Gedanke hätte gereicht, um den Albtraum zu beenden. Und doch wusste sie, dass sie bleiben wollte.
Verzeih mir, Rhys , sagte sie und machte sich auf den Weg durch die Korridore.
Rhys durchquerte den Flur mit raschen Schritten.
In dieser Nacht war fast niemand in der Loge. Jedes Geräusch erklang verstärkt, gespenstisch. Oder vielleicht hatte er nun endlich Angst vor dem, was er zu tun beabsichtigte.
Er erweiterte seine Sinne und konzentrierte sich auf die weit entfernte Präsenz seines Vaters im ersten Stock.
Hywel Llewelyn war wachsam, die Vampire standen um ihn herum in Erwartung eines Befehls von ihm.
Gut , dachte der Junge, jeder würde tun, was er tun musste. Es blieb keine Zeit mehr, um es sich anders zu überlegen, denn sie würden nie mehr eine so günstige Gelegenheit haben.
Er stieg eilig die Treppe hinunter und ging zur Geheimtür, die ihn ins Herz der Loge führen würde. Automatisch zählte er seine Schritte.
Eine Autosicherung heulte unweit entfernt in einer Straße.
Er nutzte den Moment, um den Öffnungsmechanismus ungestört aufschnappen zu lassen.
Ohne den Weihrauchduft war die Luft, die aus der Tiefe aufstieg, dick und roch abgestanden.
Seine Hände zitterten leicht vor Aufregung und er musste einen Augenblick innehalten, um die Beherrschung wiederzuerlangen.
Zweifel stürmten weiterhin von den Rändern seines Bewusstseins auf ihn ein, versuchten seinen Geist zu erobern.
Vielleicht ist es nicht der richtige Weg … Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.
Er drückte sich die Finger auf die Augen.
Nicht jetzt , rief er sich zur Ordnung, später .
Später würde er mit seinem Gewissen kämpfen und Gewissensbisse akzeptieren, doch zunächst musste er zu Ende führen, was er sich vorgenommen hatte.
Du weißt, warum du es tust , sagte er sich. Und beim Bild Winters in seinen Gedanken fuhr ihm ein Schauer über den Rücken.
Er liebte sie, begehrte sie.
Ihr Blut floss
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