Silver Linings (German Edition)
Dunkelheit.
Erinnerungen an Mr. Gs letzten Besuch auf dem Speicher meiner Eltern schießen mir blitzartig durch den Kopf – mein Vater, der mich tritt und schlägt, mein Vater, der droht, mich zurück an den schlimmen Ort zu schicken –, also schließe ich die Augen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bist zehn, leere meinen Kopf.
Doch Kenny G lässt sich nicht beirren.
Das Sopransaxophon schiebt sich wieder zwischen Mr. Gs Lippen, und Songbird hebt an. Ich halte die Augen geschlossen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf, aber er bläst munter drauflos. Die kleine weiße Narbe über meiner rechten Augenbraue fängt an, zu schmerzen und zu jucken, während die Melodie dem Höhepunkt entgegenflattert. Verzweifelt möchte ich mir den Handballen gegen die Stirn schlagen, doch stattdessen halte ich die Augen geschlossen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf.
Just in dem Moment, als Kenny Gs Smooth Jazz unüberwindlich scheint …
Sieben, acht, neun, zehn.
Plötzlich Stille.
Als ich die Augen aufschlage, sehe ich Nikkis regloses Gesicht, ihre Sommersprossennase – ich küsse die Glasscheibe und bin unglaublich froh, dass Kenny G aufgehört hat zu spielen. Ich steige aus meinem Schlafsack, schaue mich auf dem Speicher um – rücke ein paar verstaubte Kisten und sonstige Gegenstände beiseite, blicke hinter Kleiderständer mit ausrangierten Sachen –, aber Kenny G ist verschwunden. «Ich hab ihn besiegt», flüstere ich. «Er hat mich nicht dazu gebracht, mir gegen die Stirn zu schlagen, und …»
Ich sehe eine Kiste, auf der PAT steht, und auf einmal beschleicht mich das ungute Gefühl, das ich manchmal kriege, kurz bevor etwas Unangenehmes passiert. Es fühlt sich an, als müsste ich ganz dringend zum Klo, obwohl ich weiß, dass ich nicht muss.
Die Kiste steht am hinteren Ende des Speichers. Sie war unter einem Flechtteppich versteckt, den ich runtergenommen habe, als ich nach Kenny G suchte. Ich muss mir einen Weg durch das Durcheinander bahnen, das ich bei meiner Suche angerichtet habe, aber dann bin ich bei der Kiste. Ich klappe die beiden Deckellaschen auf, und ganz zuoberst liegt meine Fußballtrainingsjacke der Collingswood High School. Ich nehme sie aus der Kiste und halte das verstaubte Teil hoch. Die Jacke sieht so klein aus. Ich würde die gelben Lederärmel abreißen, wenn ich sie jetzt anprobierte, denke ich, und dann lege ich das Relikt auf die nächstbeste Kiste. Als ich wieder in die PAT-Kiste schaue, bin ich so geschockt und verstört, dass ich den Speicher hektisch wieder genau so aufräume, wie er war, bevor ich anfing, nach Mr. G zu suchen.
Als alles wieder an seinem Platz ist, liege ich in meinem Schlafsack und fühle mich wie in einem Traum. In der Nacht stehe ich mehrmals auf, nehme den Flechtteppich weg und schaue wieder in die PAT-Kiste, nur um mich zu vergewissern, dass ich nicht halluziniert habe. Jedes Mal belastet der Inhalt meine Mom und gibt mir das Gefühl, hintergangen worden zu sein.
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Moms Handschrift wird sichtbar
Die Sonne bricht durchs Speicherfenster und fällt mir ins Gesicht, wärmt es, bis ich die Augen öffne und den Tag mit einem Blinzeln begrüße. Nach einem Kuss trage ich Nikki zurück auf die Kommode in meinem Zimmer und sehe, dass Mom noch immer schlafend in meinem Bett liegt. Mir fällt auf, dass das Glas Wasser, das ich ihr hingestellt hatte, jetzt leer ist, und ich bin froh, dass ich es bei ihr gelassen habe, obwohl ich jetzt wütend auf Mom bin.
Während ich die Treppe hinuntergehe, rieche ich etwas Verbranntes.
Als ich in die Küche komme, steht mein Vater am Herd. Er trägt Moms rote Schürze.
Als er sich umdreht, hält er in der einen Hand einen Pfannenwender und in der anderen einen rosa Topfhandschuh. Hinter ihm brutzelt Fleisch, und eine dichte Rauchfahne weht nach oben in die Dunstabzugshaube.
«Was machst du?»
«Kochen.»
«Was kochst du?»
«Steak.»
«Wieso?»
«Ich hab Hunger.»
«Brennt es nicht gerade an?»
«Cajun-Style. Scharf angebraten.»
«Vielleicht solltest du die Hitze ein bisschen runterdrehen?», schlage ich vor, aber er konzentriert sich wieder auf seine Pfanne und wendet das brutzelnde Stück Fleisch hin und her, also gehe ich runter in den Keller und beginne mit dem Training.
Der Feuermelder jault ungefähr fünfzehn Minuten lang.
Als ich zwei Stunden später in die Küche zurückkomme, ist die
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