Silver Linings (German Edition)
lange nur dann habe lachen oder lächeln sehen, wenn sie mich damit neckt, dass Tiffany «meine Freundin» ist. Und wenn ich’s mir recht überlege, sehe ich Mom oft weinen oder den Tränen nahe. Vielleicht ist sie es leid, darauf zu achten, dass ich meine Pillen nehme? Vielleicht habe ich morgens mal vergessen, die Toilette abzuziehen, und sie hat ein paar von meinen Tabletten in der Schüssel gefunden, und jetzt ist sie böse auf mich, weil ich Pillen unter der Zunge versteckt habe? Vielleicht habe ich Mom nicht genug wertgeschätzt, genau wie ich Nikki nicht genug wertgeschätzt habe, und jetzt nimmt Gott mir auch noch Mom weg? Vielleicht kommt Mom nie wieder nach Hause und …
Gerade, als ich anfange, so richtig Panik zu kriegen, als müsste ich mir mit dem Handballen gegen die Stirn schlagen, höre ich ein Auto in die Einfahrt biegen.
Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich Moms roten Wagen.
Ich renne die Treppe hinunter.
Ich bin zur Tür hinaus, ehe sie einen Fuß auf die Veranda setzen kann.
«Mom?», sage ich.
«Ich-b’ns-blo’», sagt sie aus der Dunkelheit der Einfahrt.
«Wo warst du?»
«Aus.» Als sie in den weißen Lichtkreis der Verandalampe tritt, wirkt sie, als würde sie jeden Moment hintenüberkippen, also springe ich die Stufen runter und nehme ihre Hand, lege den Arm um ihre Schultern. Ihr Kopf wackelt ein bisschen, aber sie schafft es, mir in die Augen zu sehen. Sie blinzelt und sagt: «Schön blöd von Nikki, daschie dich hat abhaun lass’n.»
Ihre Erwähnung von Nikki beunruhigt mich noch mehr, vor allem, dass sie sagt, ich wäre abgehauen, weil ich nicht abgehauen bin und liebend gern wieder zu Nikki zurückkehren würde, jetzt oder irgendwann, und nicht Nikki, sondern ich war schön blöd, weil ich sie nicht wertgeschätzt habe, so wie sie war. All das weiß Mom nur allzu gut. Aber ich kann ihre Alkoholfahne riechen. Ich höre, wie sie lallt, und ich begreife, dass sie diesen Unsinn wahrscheinlich nur sagt, weil sie betrunken ist. Mom trinkt normalerweise nicht, aber heute Nacht ist sie offensichtlich blau, und auch das macht mir Sorgen.
Ich helfe ihr ins Haus und bugsiere sie zur Couch im Wohnzimmer. Minuten später ist sie eingeschlafen.
Es wäre eine schlechte Idee, meine betrunkene Mutter zu meinem schmollenden Vater ins Bett zu verfrachten, also schiebe ich einen Arm unter ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie, hebe sie hoch und trage sie in mein Zimmer. Mom ist klein und leicht, deshalb ist es nicht schwer für mich, sie die Treppe hochzutragen. Ich lege sie ins Bett, ziehe ihr die Schuhe aus, breite die Bettdecke über ihren Körper und hole dann ein Glas Wasser aus der Küche.
Wieder oben angekommen, suche ich ein Fläschchen Tylenol und schüttele zwei Tabletten heraus.
Ich hebe den Kopf meiner Mutter an, bringe sie in eine sitzende Position, rüttele sie leicht, bis sie die Augen öffnet, und sage, sie soll die Tabletten mit Wasser runterspülen. Zuerst sagt sie: «Will nur schlaf’n», aber wie ich noch aus Studentenzeiten weiß, sind Wasser und Kopfschmerztabletten vor dem Einschlafen eine gute Vorbeugung gegen einen allzu heftigen Kater am nächsten Morgen. Schließlich schluckt meine Mutter die Tabletten, trinkt ein halbes Glas Wasser und ist sofort wieder eingeschlafen.
Ich beobachte sie ein paar Minuten und denke, dass sie noch immer hübsch aussieht, dass ich meine Mom wirklich liebe. Ich frage mich, wo sie getrunken hat, mit wem sie getrunken hat und was sie getrunken hat, aber eigentlich bin ich nur froh, dass sie wohlbehalten wieder zu Hause ist. Ich versuche, mir nicht vorzustellen, wie sie in irgendeiner trostlosen Bar umringt von Junggesellen mittleren Alters Drinks in sich hineinschüttet. Ich versuche, mir nicht vorzustellen, wie Mom bei einer ihrer Freundinnen über meinen Vater herzieht und dann betrunken nach Hause fährt. Aber einen Gedanken werde ich nicht los: Meine Mutter wird dazu getrieben, zur Flasche zu greifen – ich treibe sie dazu, zur Flasche zu greifen, und mein Vater tut auch nicht viel dagegen.
Ich nehme mein gerahmtes Foto von Nikki, steige die Speichertreppe hoch, stelle Nikki neben mein Kopfkissen und krieche in den Schlafsack. Ich lasse das Licht an, damit ich mit Blick auf Nikkis sommersprossige Nase einschlafen kann, und genau das mache ich auch.
Als ich die Augen aufschlage, steht Kenny G breitbeinig über mir, die Füße rechts und links von meiner Brust. Die sexy Synthesizer-Akkorde durchdringen sacht die
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