Silver Linings (German Edition)
sie anzieht. Eine verstaubte Kiste mit Schlaginstrumenten – Tamburine, Triangeln, Zimbeln und Holzstöcke, die man gegeneinanderschlägt – erinnert mich an den Musikraum an dem schlimmen Ort und an den Musikentspannungskurs, an dem ich teilgenommen hab, bis ich rausgeschmissen wurde. Und da kommt mir ein beängstigender Gedanke: Was, wenn einer der anderen Teilnehmer zu einem Kenny-G-Song tanzt?
«Du musst rausfinden, zu welcher Musik die anderen tanzen», sage ich zu Tiffany.
«Ich hab doch gesagt, du sollst vor dem Auftritt nicht mit mir reden.»
«Finde einfach raus, ob irgendwer auf eine Musik tanzt, die von einem Jazzmusiker mit den Initialen K. G. stammt.»
Nach einer Sekunde sagt sie: «Kenny …»
Ich schließe die Augen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf.
«Das darf nicht wahr sein», sagt Tiffany, steht aber auf und geht aus dem Raum.
Zehn Minuten später ist sie wieder da. «Keine Musik von der fraglichen Person», sagt Tiffany und setzt sich wieder hin.
«Bist du sicher?»
«Ich hab gesagt, kein Kenny G.»
Ich schließe die Augen, summe einen einzelnen Ton und zähle im Geist bis zehn, leere meinen Kopf.
Wir hören ein Klopfen, und als Tiffany die Tür öffnet, sehe ich, dass inzwischen mehrere Mütter backstage sind. Die Frau, die geklopft hat, sagt Tiffany, dass jetzt alle angemeldet und umgezogen sind. Als ich den Abstellraum verlasse, sehe ich zu meinem Entsetzen, dass Tiffany und ich mindestens fünfzehn Jahre älter sind als die Konkurrenz. Wir sind umgeben von jungen Mädchen.
«Lass dich von ihrem harmlosen Äußeren nicht täuschen», sagt Tiffany. «Das sind alles kleine Giftnattern – und wahnsinnig talentierte Tänzerinnen.»
Ehe das Publikum eingelassen wird, haben wir Gelegenheit, noch mal kurz auf der Bühne vom Plaza Hotel zu üben. Wir schaffen unsere Nummer perfekt, doch die meisten anderen Tänzerinnen haben auch eindrucksvolle Nummern zu bieten, was mich befürchten lässt, dass wir nicht gewinnen werden.
Unmittelbar vor Beginn des Wettbewerbs werden alle Teilnehmer dem Publikum vorgestellt. Als Tiffany und ich aufgerufen werden, gehen wir auf die Bühne, winken den Leuten zu, die nur mäßigen Applaus spenden. Bei dem hellen Scheinwerferlicht sind die Zuschauer schwer zu sehen, aber ich entdecke Tiffanys Eltern in der ersten Reihe. Neben ihnen sitzen die kleine Emily, Ronnie, Veronica und eine Frau mittleren Alters, von der ich annehme, dass sie Tiffanys Therapeutin Dr. Lily ist, weil Tiffany mir erzählt hat, dass ihre Therapeutin da sein würde. Ich suche rasch die übrigen Reihen ab, als wir die Bühne wieder verlassen, kann meine Mutter aber nirgends entdecken. Keinen Jake. Keinen Dad. Keinen Cliff. Ich merke, dass mich das traurig macht, auch wenn ich eigentlich mit niemandem außer Mom gerechnet habe. Vielleicht ist Mom ja doch irgendwo da draußen, denke ich, und bei dem Gedanken fühle ich mich etwas besser.
Hinter der Bühne gestehe ich mir insgeheim ein, dass die anderen mehr Applaus bekommen haben als wir, was bedeutet, dass ihre Fangemeinde größer ist als unsere. Und obwohl die Frau, die uns vorgestellt hat, jetzt eine Ansprache hält, in der sie sagt, dass es sich hier um eine Darbietung handelt und nicht um einen Wettbewerb, fürchte ich, dass Tiffany nicht die goldene Trophäe bekommen wird, womit meine Chance vertan wäre, Nikki Briefe zu schreiben.
Laut Plan sind wir als Letzte dran, und die anderen Mädchen führen ihre Nummern vor, wofür sie teils mäßigen, teils begeisterten Beifall ernten, was mich überrascht, weil ich bei der Probe kurz vor der Show alle Nummern großartig fand.
Doch als die kleine Chelsea Chen, die mit ihrer Ballettnummer direkt vor uns dran ist, fertig ist, bekommt sie donnernden Applaus.
«Was hat sie da draußen gemacht, dass sie so einen tollen Applaus verdient?», frage ich Tiffany.
«Sprich nicht mit mir vor dem Auftritt», sagt sie, und ich bin auf einmal sehr nervös.
Die Frau, die für die Reihenfolge der Auftritte zuständig ist, ruft unsere Namen auf, und der Applaus ist ein wenig kräftiger als zu Beginn des Wettbewerbs. Kurz bevor ich mich hinten auf die Bühne lege, spähe ich ins Publikum, ob Jake oder Cliff vielleicht verspätet eingetroffen sind, doch im grellen Licht der Scheinwerfer, die auf mich gerichtet sind, kann ich nichts erkennen. Ehe ich einen Gedanken fassen kann, fängt die Musik an.
Klavierklänge – langsam und traurig.
Ich beginne,
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