Silver Linings (German Edition)
unglaublich langsam Richtung Bühnenmitte zu kriechen, nur mit Hilfe der Arme.
Die männliche Stimme singt: «Turn around …»
Bonnie Tyler antwortet: «Every now and then I get a little bit lonely and you’re never coming round.»
An dieser Stelle kommt Tiffany auf die Bühne gelaufen und springt über mich drüber wie eine Gazelle oder irgendein anderes, wunderbar leichtfüßiges Tier. Während die beiden Stimmen weiter abwechselnd Verse singen, tanzt Tiffany ihren Part: Sie rennt, springt, taumelt, wirbelt herum, rutscht – Modern Dance.
Als die Drums einsetzen, stehe ich auf und stelle mit den Händen einen großen Kreis dar, damit die Leute wissen, dass ich die Sonne bin und aufgegangen bin. Auch Tiffanys Bewegungen werden leidenschaftlicher. Als Bonnie Tyler zum Refrain anhebt und «Together we can take it to the end of the line; your love is like a shadow on me all of the time» singt, machen wir die erste Hebefigur. «I don’t know what to do and I’m always in the dark.» Ich halte Tiffany hoch über meinem Kopf. Ich stehe ruhig und sicher wie ein Fels. Ich mache meine Sache fehlerlos. «We’re living in a powder keg and giving off sparks.» Ich fange an, Tiffany zu drehen, während sie die Beine zum Spagat hebt und Bonnie Tyler «I really need you tonight! Forever’s gonna start tonight! Forever’s gonna start tonight» schmettert. Wir drehen uns einmal ganz um die eigene Achse, und als Bonnie Tyler «Once upon a time I was falling in love, but now I’m only falling apart» singt, sinkt Tiffany nach vorne in meine Arme, und ich lasse sie zu Boden gleiten, als wäre sie tot – und ich, als die Sonne, trauere um sie. «Nothing I can say, a total eclipse of the heart.»
Als die Musik wieder an Fahrt aufnimmt, springt Tiffany explosionsartig auf und fängt an, wunderschön über die ganze Bühne zu fliegen.
Der Song geht weiter, und ich male wieder große, langsame Kreise mit den Armen, um die Sonne, so gut ich kann, darzustellen. Da ich die Nummer in- und auswendig kenne, kann ich währenddessen an andere Dinge denken, und so denke ich, wie mühelos ich diesen Auftritt doch bewältige und was für ein Jammer es ist, dass meine Familie und meine Freunde nicht da sind, um mich so großartig tanzen zu sehen. Auch wenn wir wahrscheinlich nicht den lautesten Beifall bekommen werden – vor allem weil Chelsea Chen anscheinend jedes einzelne Mitglied ihrer Großfamilie angeschleppt hat –, denke ich auf einmal, dass wir trotzdem gewinnen werden. Tiffany ist wirklich gut, und während sie immer und immer wieder an mir vorbeifliegt, fange ich an, sie auf eine andere Art zu bewundern als zuvor. Jetzt, wo es drauf ankommt, legt sie sich noch mehr ins Zeug als sonst und zeigt eine Seite von sich, die ich vorher nicht gesehen habe. Wenn sie den ganzen letzten Monat bei unseren Proben im Studio mit ihrem Körper geweint hat, dann schluchzt sie heute Abend haltlos, und man müsste schon aus Stein sein, um nicht zu fühlen, was sie dem Publikum darbietet.
Doch dann singt Bonnie Tyler wieder: «Together we can make it to the end of the line» , was bedeutet, dass jetzt die zweite Hebefigur kommt – die schwierigste –, also gehe ich in die Hocke und halte die Hände mit den Handflächen nach oben in Schulterhöhe. Als der Song wieder anschwillt, stellt sich Tiffany auf meine Handflächen, und als Bonnie Tyler «I really need you tonight» singt, geht Tiffany in die Knie, also spanne ich die Beinmuskeln an und schnelle hoch, strecke dabei die Arme, drücke die Handflächen nach oben. Tiffany fliegt hoch in die Luft, macht einen ganzen Salto, fällt in meine Arme, und während der Refrain abebbt, blicken wir einander in die Augen. «Once upon a time I was falling in love, but now I’m only falling apart. There’s nothing I can say, a total eclipse of the heart.» Sie gleitet wie tot aus meinen Armen, und ich – als Sonne – gehe unter, was heißt, dass ich mich wieder auf den Boden lege und mich nur mit den Armen langsam rückwärts aus dem Scheinwerferlicht hinausschiebe, was fast eine volle Minute dauert.
Die Musik verklingt.
Stille.
Einen kurzen Moment lang fürchte ich, dass keiner klatschen wird.
Doch dann setzt tosender Applaus ein.
Als Tiffany aufsteht, tue ich das auch. Genau wie wir es so oft geübt haben, nehme ich Tiffanys Hand und verbeuge mich, worauf der Beifall noch stärker wird und das ganze Publikum aufsteht.
Ich bin überglücklich, aber gleichzeitig bin ich traurig, weil
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