Silvermind (German Edition)
älter als sechzehn, eine alte Dame und ein Goth mit blauen Haaren. Verdammt.
Nero hatte Ray seit der Schlägerei, die fast eine Woche her war, nicht mehr gesehen. Zu zwei Proben war dieser nicht erschienen, da er Schicht in der Bar gehabt hatte. Die anderen beiden Male war Nero verhindert gewesen. Die gesamte Woche war nicht gut gelaufen.
„Hey“, meinte Nero, als er sich ihm gegenüber in dem Vierer niederließ. Er wusste nicht einmal, warum er sich nicht an das andere Ende des Abteils gesetzt hatte. Ihm war nicht nach Gesellschaft. Doch irgendetwas hatte ihn zu diesem Platz gezogen. Vielleicht die Stimmung, die Ray umgab.
Ray sah unter gesenkten Lidern zu ihm auf und nickte kurz. Dann widmete er sich wieder seinem Handy. Dessen Gesicht lag halb im Schatten, sodass Nero es nicht richtig erkennen konnte. Die Züge wirkten verschwommen.
„Nach Hause oder Arbeit?“, hakte Nero nach.
„Ist das wichtig? Komm auf den Punkt.“ Ob des Tonfalls zog Nero eine Augenbraue in die Höhe.
Rays Verhalten irritierte ihn. Irgendetwas stimmte nicht.
„Ich muss mit dir reden. Deswegen wollte ich wissen, ob du Zeit hast.“
„Nein.“
„Was nein? Du willst nicht reden oder du hast keine Zeit?“
„Beides.“
Nero knurrte angesichts dieser Antwort. Er beugte sich vor, nahm Rays Kinn zwischen die Finger und drehte dessen Kopf zu sich. Rauchgraue Augen schauten ihn scharf an. Nero musterte die Gesichtszüge vor ihm, dann verfinsterte sich sein Blick.
„Woher hast du das?“
Mit dem Daumen strich er über die dunkle Verfärbung, die sich auf der Wange abzeichnete. Es war ein Bluterguss, zwei, drei Tage alt. Ray sah ihn einen Moment lang an. Etwas Gebrochenes lag in dessen Blick, wie ein endloses Scherbenmeer, an dessen Spitzen man sich jedes Mal verletzte. Die Eindringlichkeit von Rays Augen war ihm damals schon aufgefallen. Sie direkt zu spüren, fuhr ihm eindeutig auf unangenehme Weise unter die Haut. Denn es war keine schöne Geschichte, die diese tiefen Seen zu erzählen hatten. Ray schüttelte den Kopf.
„Ich hole meine Schwester ab“, wich er der Frage aus. Nero ließ dessen Kinn los.
„Geht es dem Mädchen gut?“
„Ja.“
Aber dir nicht, dachte er. Irgendetwas belastete Ray. Nero nahm nicht an, dass die blauen Flecken von einer Straßenschlägerei kamen. Dafür war Ray nicht der Typ. Hatte Dean ihm eine reingehauen? Nero verwarf diesen Gedanken. Nein, das war es nicht. Dean sorgte sich um seinen Kumpel ...
„Richte ihr schöne Grüße aus. Ich mag die Kleine.“ Das brachte diesen leise zum Lächeln. Nur kurz, aber es reichte, um dessen Gesicht für einen Moment komplett zu verändern. Ray liebte seine Schwester aus tiefstem Herzen.
„Werde ich machen.“
„Gut.“ Damit endete ihr Gespräch. Nero lehnte sich tiefer in den Sitz, stützte die Füße auf dem gegenüberliegenden ab. Er würde erst nach vier weiteren Stationen aussteigen müssen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er Ray. Für eine Weile hing sein Blick auf dessen Lippen. Nero wusste, wie sie schmeckten. Wusste es viel zu genau. Wusste auch, dass es ein verdammter Fehler gewesen war, diese zu kosten.
„Es tut mir leid“, meinte er leise, als die Stille um ihn herum erdrückend wurde. Nur das Rattern der Räder auf den Gleisen durchbrach die Ruhe und schien dennoch völlig verschluckt zu werden.
„Ja, mir auch“, erwiderte Ray ebenso. Keiner von beiden wusste, was der andere gemeint hatte.
Als die Bahn an der nächsten Station anhielt, verabschiedete sich Ray und stieg aus. Nero schaute ihm hinterher, bis die Bahn wieder anfuhr und er den Kerl aus dem Blick verlor. Er lehnte die Stirn an die Scheibe und schloss die Augen. Dieser Tag war nicht besser als die anderen verlaufen.
***
Kapitel 10 – Ray
Stark genug zu sein, um das Leben in vernünftige Bahnen zu lenken, war nicht einfach. Es war auch nicht einfach, den richtigen Weg zu finden. Relativ, sagte Ray sich immer wieder. Es war nicht wichtig, nach richtig oder falsch zu suchen. Wichtig war, dass man überhaupt von der Stelle kam. Aber das war leichter gesagt als getan. Eindeutig war sein Leben zum Stehen gekommen. Völliger Stillstand. Dafür häuften sich die Probleme.
Frustriert schaute er auf die Rechnung. Der Strom würde abgestellt werden, wenn die Summe nicht bis zum Ende des Monats gezahlt würde. Bis dahin war es knapp eine Woche, bei einem Betrag von mehreren Hundert Euro. Im Prinzip war das nicht Rays Problem. Die Wohnung
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