Silvermind (German Edition)
guten Einfluss auf das Mädel.
Belustigtes Raunen ging durch die Reihe. Ray merkte, dass ihm Hitze in die Wangen stieg. Diese Situation war ihm unweigerlich peinlich. Dass Nero plötzlich vor ihm stand, ein amüsiertes Funkeln in den Augen und ein schelmisches Grinsen auf den Lippen hatte, trug nicht dazu bei, dass er sich wohler fühlte.
Die Nähe des Leaders war ihm zu viel. Sie war Ray bereits gestern zu viel, zu intensiv gewesen. Die Berührung in der U-Bahn hatte er nicht vergessen. Auch nicht den Blick, mit dem Nero ihn bedacht hatte. Ray wollte sich dem Kerl nicht öffnen. Vertrauen war eine Sache, die er kaum jemandem schenkte. Wissen über eine Person zu haben, hieß Macht zu besitzen. Was er sich nicht leisten konnte. Dieses Wagnis wollte er nicht eingehen.
Er atmete tief ein, versuchte die innere Unruhe zu vertreiben, die sich mit Neros Nähe eingestellt hatte. Dabei erhaschte er eine Nuance des Duftes, der diesen umgab. Eine Mischung aus kaltem Regen, Leder und Dunkelheit. Fast glaubte Ray, die Gefahr, die von diesem Kerl ausging, auf der Zunge schmecken zu können. Ein leichtes Kribbeln, wie die Berührung einer anderen Zunge. Es war eine Versuchung, das gestand er ein. Aber schon lange spielte er nicht mehr auf Risiko.
Sein Blick hatte sich auf Neros Lippen geheftet. Wie lange er diese schon anstarrte, wusste er nicht. Als er langsam aufsah, begegnete er braunen Augen, die dunkler als sonst schienen. Die Luft wirkte dünner, die Materie aufgeladen. Spannung. Wie ein Gewitter. Zwei Fronten, die aufeinanderprallten. Blitze züngelten wie hauchzarte Fäden zwischen ihren Leibern. Ray konnte sich dem nicht entziehen. Es war ein stummes Blickduell. Und als sich Nero wie beiläufig wieder abwandte, stand Ray atemlos auf der Stelle, nicht sicher, was zwischen ihnen passiert war.
„Ist das wirklich so?“, richtete der Leader an Lora, das Gespräch wieder aufgreifend. Rays Schwester grinste verschmitzt. Ihre Antwort bekam er nicht mehr mit. Er klinkte sich aus der Gesprächsrunde und betrat die Bühne.
In einer Ecke, verborgen hinter dem Vorhang befand sich ein schwarzer Flügel. Letzte Nacht hatte er die Idee für einen Song gehabt. Nicht für ´Silvermind`. Der Titel würde kaum in die Setlist der Dark-Rock-Band passen. Er war nicht als Gitarrenstück gedacht, sondern darauf ausgelegt, von einem Klavier untermalt zu werden. Lange war es her, dass Ray gespielt hatte.
Er klappte die Abdeckung der Klaviertastatur hoch, setzte sich auf den Hocker und strich andächtig über die Tasten. Leise Töne erklangen in der Halle, die sich mit den Stimmen der anderen vermischten. Ray schloss einen Moment die Augen. Das war sein Leben.
Er schlug die ersten Tasten an, die sich sanft zu einer Melodie formten, sich in die Luft ergossen, wie das Rauschen des Meeres. Im harmonischen Einklang, völlig befreit von Zwängen.
Sobald die Melodie durch die Halle floss, setzte er mit der Stimme ein, ließ die Worte wie von selbst über die Lippen gleiten. Es war ein Stück, das vom Schmerz erzählte. Dem Leben, das ihm aus den Händen geglitten war, als er es für einen Moment gehalten hatte. Es war Trauer, die er über diesen Verlust verspürte. Leid, dass er nicht mildern konnte. Egal, wie er sich bemühte.
Mit jedem weiteren Ton nahm die Stärke an Gefühl zu. So intensiv, dass Ray glaubte, die Musik in sich fließen zu spüren. Durch das Blut rinnen. Seine Stimme zitterte ein wenig, gewann an Intensität und verlor doch ihre Lautstärke. Gehalten zum Schluss, begleitend zur Melodie. Flüsternde Worte am Ende des Liedes, die letzten verklingenden Töne.
Für einen Augenblick schwebten Rays Hände über den Tasten, die Fingerspitzen nur Millimeter von ihnen entfernt. Absolute Stille umgab ihn. Nichts weiter als leerer Raum. Frieden. Bis er den Blick hob.
Sie standen alle noch da. Er hatte sie für eine Weile völlig vergessen. Mark, Blair, Zeno, Dean, Lora und Nero. Sie sahen ihn an. Eine Situation, die Ray am liebsten vermieden hätte. Aber er hatte nicht nachgedacht.
Ray räusperte sich verhalten, deckte die Tastatur wieder zu und stand auf. „Tut mir leid“, meinte er, die Stimme leicht belegt. Mit einer Hand strich er die Haare aus der Stirn, nickte den Jungs einmal zu und verschwand hinter der Bühne.
Er war völlig aufgewühlt. Erst jetzt merkte er die Auswirkungen des Tages. Verstand sein Verhalten nicht. Nur einen kurzen Moment wollte er sich sammeln. Danach würde sein Geist klarer sein, er die
Weitere Kostenlose Bücher