Silvermind (German Edition)
Stahlträger der Fabrikhalle. Während er rauchte, ließ er den Blick durch die Gegend schweifen. Er dachte an die vergangenen Stunden. Die Band hatte das gesamte Set noch einmal durchgespielt, die letzten Vorbereitungen getroffen. Ihr Bühnenbild war ausgearbeitet und sie hatten die Lieferung der bestellten Fanartikel erhalten. Außerdem hatte Nero die endgültige Zusage der Vorgruppe bekommen. Alles in allem hätte es wirklich nicht besser laufen können.
Aber die andere Sache ...
Seine Augen blieben an der kleinen Gestalt hängen, die am anderen Ende der Halle an einem Tisch saß. Gedankenversunken klopfte Lora mit einem Stift auf die Platte, den Kopf auf die Hand gestützt. Immer wieder schweifte ihr Blick zu Ray, der davon jedoch nichts mitbekam.
Nero schnippte den Rest der Zigarette auf den Boden, trat den Stummel aus und begab sich zu Lora. Kaum bei dem Tisch angekommen, sah sie ihn an. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Hallo.“
„Was machst du hier so ganz alleine?“ Normalerweise hielt sie sich viel bei Dean auf, oder wenn möglich bei Ray. Andere Male war Lora zu ihm gekommen und hatte ihm unzählige Löcher über den Bandalltag in den Bauch gefragt. Sie zuckte mit den Schultern. Nero zog einen Stuhl heran und setzte sich.
„So betrübt kenne ich dich gar nicht. Wo ist dein Lächeln geblieben?“
„Weggelaufen“, meinte sie leise.
„Soll ich es für dich suchen?“
„Nein, kommt nicht mehr zurück.“
„Warum nicht?“ Lora schaut an ihm vorbei, wieder zu Ray. Mit dem Stift in der Hand zog sie unsichtbare Kreise auf der Tischplatte. Erneut zuckte sie mit den Schultern.
„Es gibt Dinge, die verliert man einfach.“
„Du machst dir Sorgen um deinen Bruder“, meinte Nero mitfühlend. Die Kleine wandte den Blick ab, dann nickte sie langsam.
„Ja.“
„Magst du mir erzählen warum?“
Ihm kam die Situation wie ein Déjà-Vu vor. Erst vor Kurzem hatte er dieses Angebot ihrem Bruder gemacht, der genauso mitgenommen gewesen war, wie Lora jetzt. Doch im Gegensatz zu Ray nahm die Kleine es an. Mit einem schweren Seufzer lehnte sie sich zurück.
„Ray ist anders geworden. Ich denke, es liegt an Roger.“
Nero hatte diesen Namen zuvor nie gehört. Demnach konnte er damit nichts anfangen. Ein leiser Verdacht kam in ihm auf, der ihn dazu veranlasste zu fragen:
„Ist das ...“
Bevor Nero seinen Gedanken aussprechen konnte, unterbrach Lora ihn. „Er ist nicht der Freund meines Bruders, sondern unser Vater.“ Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Wenn er daran dachte, wie sich Ray in den letzten Tagen gab …
„Ray versucht mich zu beschützen. Aber dabei verliert er sich selbst. Mir tut es leid, dass er wegen mir solche Probleme hat.“
Die Ernsthaftigkeit in Loras Stimme brachte Nero zum Schlucken. Ihm kam es vor, als würde er mit einer Erwachsenen reden, nicht mit einem dreizehnjährigen Mädchen. Ihm tat es seelisch weh, dass dieses kleine Wesen so viel Resignation ausstrahlte. Als wäre Lora daran gewöhnt, Probleme zu machen, sich zumindest für diese verantwortlich zu fühlen. Nero wollte nicht, dass sie das dachte.
„Er tut es, weil er dich sehr liebt. Für die Schwierigkeiten, die er hat, kannst du nichts, Lora. Ray gibt sein Bestes, damit es dir gut geht. Gib dir nicht die Schuld. Die hast du nicht und wirst sie auch niemals haben. Manchmal ist das Leben sehr schwer.“
„Aber mein Bruder könnte es einfacher haben. Roger hasst ihn. Ich weiß, dass Ray schon lange ausgezogen wäre, wenn es mich nicht gäbe. Ich bin nur seine Halbschwester. Vor ein paar Jahren bin ich zu meinem Vater gekommen, da meine Mutter gestorben war. Ich glaube, Ray hat Angst, dass mir etwas passiert. Er will mich nicht alleine lassen.“
Diese Information ließ Ray in einem ganz anderen Licht erscheinen. Nero wusste, dass dieser eine Geschichte hatte, die viele schmerzliche Erinnerungen barg. Doch ihm waren keine Einzelheiten bekannt gewesen. Jetzt ein Stück von dessen Leben zu hören, machte Nero in vielerlei Hinsicht nachdenklich. Ray hatte sich dem Leben seiner Schwester verschrieben und sich dabei anscheinend aufgegeben.
Nero konnte es nachvollziehen. Schließlich hatte er sich Jahre lang um seinen Bruder gesorgt, ihm immer wieder aus dem größten Dreck geholfen. Dabei war er jedoch nie so weit gegangen, sich selbst aus den Augen zu verlieren.
Letztlich konnte man ihre Leben nicht miteinander vergleichen. Dafür waren diese zu unterschiedlich. Bei
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