Silvermind (German Edition)
Dinge wieder unverfälscht wahrnehmen, sein Gefühlskonstrukt unter Kontrolle haben.
Ray lief hinter den Vorhängen entlang, erreichte den kleinen Aufenthaltstraum und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Den Kopf in die Hände stützend seufzte er.
„Scheiße“, fluchte Ray leise. Er hätte nicht spielen sollen. Das hatte nur dazu geführt, dass in ihm ein tosender Sturm aufwallender Gefühle wütete. Etwas, das er derzeit absolut nicht gebrauchen konnte.
Eine Weile verharrte er in der Position, bis er Schritte näher kommen hörte. Es waren nicht die leichtfüßigen seiner Schwester. Die Tür wurde nach Betreten des Raumes geschlossen. Stumm ließ sich die Person neben ihm nieder.
Ray achtete nicht weiter auf die Anwesenheit seines Verfolgers. Er bemühte sich, seine schreienden Gedanken zum Schweigen zu bringen. Der Morgen stieß ihm übel auf, hinzu kamen die Erinnerungen der letzten Tage. Gewalt, Strafe, Schläge. Es war besser, diese Bilder unter Verschluss zu halten, als sie an die Oberfläche brechen zu lassen. Das komponierte Stück hatte Vergangenes gegenwärtig gemacht. Wie eine Welle, die über glitschigen Schlick hinweg gerast war. Nur langsam würde sich der aufgewirbelte Sand wieder setzen, wenn überhaupt. Leises Zittern schlich durch seinen Körper, was Ray dazu brachte, sich zu verkrampfen. Er durfte seine innere Mauer nicht einstürzen lassen.
Eine Hand berührte seinen Nacken, als hätte die Person im Raum gemerkt, dass er genau in diesem Moment am stärksten mit sich rang. Sanftes Streicheln von Handballen und Daumen beruhigte ihn. Wärme sickerte durch seine Haut wie fließendes Wasser. Zusehends entspannte sich Ray, saugte den entgegengebrachten Trost eines Ertrinkenden gleich in sich auf. Tief atmete er ein.
„Geht es wieder?“, erklang Neros raue Stimme ganz nah an seinem Ohr. Ray schluckte. Vielleicht hätte er es ahnen sollen, dass ausgerechnet der Leader ihm gefolgt war.
„Ja“, meinte er heiser. Träge glitt die Hand weiter über seinen Nacken.
„Willst du drüber reden?“ Schon wieder diese Stimme, die Ray langsam aber stetig eine Gänsehaut verpasste. Doch er würde dem Leader nichts erzählen, genauso wenig, wie er es einen Tag zuvor gewollt hatte.
„Deine Entscheidung. Falls dennoch mal was ist ...“
„Tut mir leid. Ist heute nur nicht mein Tag“, unterbrach Ray ihn leise. Langsam setzte er sich auf und sah Nero von der Seite an.
„Okay.“ Damit stand der Leader auf. Dort, wo dessen Hand in Rays Nacken gelegen hatte, konnte er immer noch die Berührung spüren. Um das Gefühl zu vertreiben, rieb Ray flüchtig über die Stelle.
„Wir wollen dann anfangen. Wenn du soweit bist, komm nach vorne“, meinte Nero, sodass Ray aufsah. Gerade, als der Leader gehen wollte, die Hand bereits an der Klinke hatte, räusperte sich Ray.
„Nero?“
„Ja.“
„Danke.“
Nero hielt kurz inne. Dann nickte er leicht und verschwand. Als Nero weg war, stand Ray auf, fuhr einmal durch seine Haare und atmete tief ein. Schließlich verließ auch er den Raum.
***
Kapitel 11 – Nero
Es lief gut. Nero hätte nicht geglaubt, dass die Band es so schnell schaffen würde, alles fertig zu planen. Zum Großteil war dies ihrem Neuzugang zu verdanken. An die Stelle seines Bruders war jemand getreten, der nicht nur etwas von Musik verstand, sondern der die Gruppe mit Ideen bereicherte und sich als wahres Organisationstalent erwiesen hatte. Ray hatte viel dazu beigesteuert, dass sie bis zur Tournee noch zeitlichen Leerlauf hatten. Diese Art von Erfolg erfreute Nero. Trotzdem gab es eine Sache, die ihn beschäftigte. Ray hatte sich verändert. War dieser zuvor bereits verschlossen gewesen und hatte kaum jemanden an sich herangelassen, war er nun von einer gänzlich undurchdringlichen Mauer umgeben. Es war von heute auf morgen passiert, hatte sich nicht angekündigt. Plötzlich erschien Ray vollkommen gefühlskalt.
Nero fragte sich in den letzten Tagen häufiger, ob er daran Schuld trug oder ob private Umstände Einfluss geübt hatten. Beide Optionen vermochten nicht, ihn glücklich zu stimmen. Denn die Auswirkung der Veränderung sah er deutlich vor Augen. Das Mädchen, Rays Schwester, war furchtbar traurig. Da Nero die Kleine mochte, bedrückte ihn ihr Kummer. Sie war ihrem Bruder sehr ähnlich, aber sie hatte die Unbeschwertheit, die Ray abhanden gekommen war.
Nero kramte nach seinen Zigaretten in der Hosentasche. Mit dem Sargnagel im Mund lehnte er an einem
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